intensiv 2001; 9(4): 164-167
DOI: 10.1055/s-2001-15728
Pflegewissenschaft
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Ahnung, Intuition und implizites Wissen als konstitutive Bestandteile pflegerischen Erkennens und Handelns[1]

Heiner Friesacher
  • Pflegewissenschaftler, Dipl.-Berufspädagoge, Lehrbeauftragter an der Universität Bremen
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

Einleitung

Der Titel dieser Arbeit scheint auf den ersten Blick auf einen Widerspruch und auf ein Dilemma hinzudeuten. Es soll vom pflegerischen Erkennen und Handeln die Rede sein, Bereiche, mit denen sich die Pflege seit einiger Zeit vor allem in wissenschaftlicher Form auseinandersetzt, denken wir an die Diagnose- und Klassifikationssysteme der NANDA und an die ICNP [1]. Mit dem Einzug wissenschaftlicher Methoden und Denkweisen soll die pflegerische Praxis auf eine sichere Grundlage gestellt werden, wie uns die Ansätze des „Evidence Based Nursings” [2] verdeutlichen.

Welche Rolle sollen und können da Ahnung, Intuition und implizites Wissen noch in der Pflege spielen, und begeben wir uns damit nicht wieder zurück in ein Verständnis von Pflege, welches wir mit der Verwissenschaftlichung gerade zu überwinden trachten?

Fragen über Fragen, auf die ich einige Antworten zu geben versuche. Meine Grundthese sei allerdings schon hier vorangestellt:

Die Verwissenschaftlichung der Pflege führt zu Veränderungen der Wissensformen in der Pflege, die nicht nur einfach eine Verbesserung, Präzisierung und Überwindung nicht professionellen Wissens darstellen, sondern die Pflege wird dadurch anders und droht ihren Kern, das eigentlich „Pflegerische”, aus dem Auge zu verlieren.

Das ist eine starke und in Zeiten der Akademisierung von Pflege nicht unproblematische These. Sie bedarf daher näherer Erläuterungen, zunächst anhand einiger einführender und begriffsklärender Ausführungen. Anschließend soll das näher betrachtet werden, was allgemein als Expertenhandeln bezeichnet wird und den oder die erfahrene Praktiker/-in in einem bestimmten Arbeitsfeld auszeichnet. Das soll anhand einiger typischer Beispiele aus der Praxis verdeutlicht und untermauert werden. Die nachfolgenden Überlegungen versuchen die eingangs aufgestellte These zu untermauern. In einem abschließenden Teil werden (berufs-)pädagogische Konsequenzen angedacht und zur Diskussion gestellt.

1 Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Münchner Pflegekongress 2000: Professionelle Pflege in Europa im November 2000. Die Thematik ist Teil einer größeren Untersuchung des Autors zum „pflegerischen Handeln”. Wesentliche Impulse stammen aus einer Lehrveranstaltung zum gleichen Thema, die der Autor im Wintersemester 2000/2001 an der Universität Bremen gehalten hat.

Literatur

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  • 2 Hasseler M. Evidenz - Basierte - Praxis - Was ist das?.  Pflege Aktuell. 1999;  7-8 416-419
  • 3 Nieke W. Ahnung. Ritter J Historisches Wörterbuch der Philosophie, Band 1. Darmstadt; Wissenschaftliche Buchgesellschaft 1971: 115-117
  • 4 Hogrebe W. Ahnung und Erkenntnis. Brouillon zu einer Theorie des natürlichen Erkennens. Frankfurt/M; Suhrkamp 1996
  • 5 Aristoteles. Nikomachische Ethik. Übersetzt, eingeleitet und kommentiert von Franz Dirlmeier Frankfurt/M; Fischer 1957
  • 6 Gron A. Henri Bergson: Das unmittelbar Gegebene. Hügli A, Lübcke P Philosophie im 20. Jahrhundert. Band 1: Phänomenologie, Hermeneutik, Existenzphilosophie und Kritische Theorie. Reinbek Rowohlt Taschenbuch Verlag 1994: 414-430
  • 7 Schneider N. Intuitionismus: Henri Bergson. Schneider N Erkenntnistheorie im 20. Jahrhundert. Klassische Positionen Stuttgart; Philipp Reclam jun. Verlag 1998: 42-50
  • 8 Eggenberger D. Grundlagen und Aspekte einer pädagogischen Intuitionstheorie. Die Bedeutung der Intuition für das Ausüben pädagogischer Tätigkeit Bern u. a.O; Verlag Paul Haupt 1998
  • 9 Springer S P, Deutsch G. Linkes - Rechtes Gehirn. Heidelberg, Berlin; Spektrum Akademischer Verlag 1998
  • 10 Führen mit Kopf und Herz. Kälin K, Müri P Psychologie für Führungskräfte und Mitarbeiter Thun; Ott Verlag 1990
  • 11 Nonaka I, Takeuchi H. Die Organisation des Wissens. Frankfurt/M., New York; Campus 1997
  • 12 Benner P. Stufen zur Pflegekompetenz. From Novice to Expert Bern u.a; Hans Huber 1994 (Originalausgabe von 1984)
  • 13 Bollnow O F. Philosophie der Erkenntnis. Das Vorverständnis und die Erfahrung des Neuen Stuttgart u. a.O; W. Kohlhammer 1970
  • 14 Claussen P C. Herz gewechselt und damit durchgegangen. Ein mentaler Reisebericht aus der Intensivstation. Meyer G, Friesacher H, Lange R Handbuch der Intensivpflege, 8. Ergänzungslieferung 6/00 Landsberg/Lech; Ecomed 2000 Kap. II-4.4: 1-17
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  • 17 Benner P, Wrubel J. Pflege, Streß und Bewältigung: Gelebte Erfahrung von Gesundheit und Krankheit. Bern u. a.O; Hans Huber 1997 (Originalausgabe von 1989)
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  • 19 Schön D. The Reflective Practitioner: How Professionals Think in Action. London; Temple Smith 1983
  • 20 Böhme G. Wissenschaftliches und lebensweltliches Wissen am Beispiel der Verwissenschaftlichung der Geburtshilfe. Böhme G Alternativen der Wissenschaft, 2. Auflage Frankfurt/M; Suhrkamp 1993: 27-53
  • 21 Koring B. Grundprobleme pädagogischer Berufstätigkeit. Bad Heilbrunn; 1992
  • 22 Uzarewicz C. Das Objekt der Begierde in der Intensivpflege/-medizin: Der menschliche Körper. intensiv 1997 (5) 4: 144-148
  • 23 King L, Appleton J V. Intuition: a critical review of the research and rhetoric.  Journal of Advanced Nursing. 1997;  26 194-202
  • 24 Easen P, Wilcockson J. Intuition and rational decision- making in Professional thinking: a false dichotomy?.  Journal of Advanced Nursing. 1996;  24 667-673
  • 25 Büssing A, Herbig B, Ewert T H. Intuition als implizites Wissen. Bereicherung oder Gefahr für die Krankenpflege?.  Pflege. 2000;  13 291-296
  • 26 Neuweg G H. Könnerschaft und implizites Wissen. Zur lehr- lerntheoretischen Bedeutung der Erkenntnis- und Wissenstheorie Michael Polanyis. Münster u.a; Waxmann 1999

1 Überarbeitete und erweiterte Fassung eines Vortrags auf dem Münchner Pflegekongress 2000: Professionelle Pflege in Europa im November 2000. Die Thematik ist Teil einer größeren Untersuchung des Autors zum „pflegerischen Handeln”. Wesentliche Impulse stammen aus einer Lehrveranstaltung zum gleichen Thema, die der Autor im Wintersemester 2000/2001 an der Universität Bremen gehalten hat.

Heiner Friesacher

Pflegewissenschaftler und Dipl.-Berufspädagoge Lehrbeauftragter an der Universität Bremen

Etelser Straße 21

27299 Langwedel

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