PiD - Psychotherapie im Dialog 2001; 2(2): 217-222
DOI: 10.1055/s-2001-15590
Interview
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

„Es geht um die
Emotionen”

Manfred  Fichter, Wolfgang  Senf
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Publication Date:
31 December 2001 (online)

PiD: Herr Fichter, Sie leiten eine sehr große Klinik, in der die Behandlung von Bulimie ein Schwerpunkt ist. Könnten Sie bitte ein paar Sätze zu der Klinik sagen?

M. Fichter: Ich bin seit 01. 01. 1985, also jetzt mehr als 15 Jahre hier. Die Klinik hat mit mir gestartet, was den Vorteil hatte, dass wir die Dinge hier so einrichten und die Mitarbeiter so auswählen konnten, dass ich die Konzepte so umsetzen konnte, wie wir sie in den Jahren davor geplant hatten. Wir hatten von Beginn an, also bereits im Jahre 1985, eine Spezialstation für Ess-Störungen. Das war Teil unseres Gesamtkonzeptes.

PiD: Mit wie vielen Betten?

M. Fichter: Wir hatten damals 37 stationäre Behandlungsplätze für Magersüchtige, Bulimia-nervosa-Patientinnen und -Patienten, soweit das denn vorkam, und für andere atypische Ess-Störungen oder Betroffene mit Binge-Eating-Disorder. Die Klinik hat sich im Laufe der Zeit erweitert, und die Anzahl der Therapieplätze für Ess-Störungen ebenfalls. Wir haben jetzt schon über mehr als fünf Jahre über 100 Betten ausschließlich für den Bereich Ess-Störungen. Wichtig ist mir festzustellen, dass dies nur ein Teil der insgesamt über 350 Betten ist. Der größte Teil der Betten ist für andere Störungsbilder vorgesehen, aber Ess-Störungen sind unser größter einzelner Schwerpunkt.

PiD: Herr Fichter, wie kommt es, das Sie schon so früh - das war immerhin schon in den frühen 80er Jahren - Ihr Augenmerk auf die Bulimie richteten?

M. Fichter: Nachdem ich Medizin und Psychologie zu Ende studiert hatte und ein gutes Jahr in den USA gewesen war, habe ich meine Assistenzarztzeit am Max-Planck-Institut für Psychiatrie begonnen und wurde dort gleich als Stationsarzt vorn an die Front gestellt. Ich war in diesen Jahren ab 1975 mit der zunehmenden Zahl an Einweisungen von Magersüchtigen und anderen essgestörten Patientinnen und Patienten konfrontiert. Und es war damals extrem schwer, eine vernünftige Therapie auf die Beine zu stellen.

PiD: Es gab damals keine vernünftige Therapie?

M. Fichter: Es gab zu wenig, und was es gab, das war noch viel zu „hausbacken”. Wir hatten wirklich sehr schwere Fälle, die schon viele andere Behandlungen hinter sich hatten. Das hat mir einerseits viel Schrecken bereitet, wirklich an die „kalte Front” gekommen zu sein. Andererseits war das für mich auch eine Herausforderung, ein Challenge, so zu sagen. Forschung war immer schon etwas, was mich interessierte, besonders die klinisch bezogene Forschung. Klinik und Forschung passte für mich sehr gut zusammen. Und bei den Ess-Störungen war ein riesiger Bedarf an Forschung und an Klinik, vor allem natürlich an Verbesserung der Therapie.

PiD: Eine Besonderheit Ihrer international sehr anerkannten Forschung sind auch die großen Fallzahlen, die Sie durch Ihre Klinik in die Forschung einbringen.

M. Fichter: Sicherlich auch deswegen, weil ich eine Forschungsstelle an der Uni München habe - dort arbeitet ein gutes, sehr kenntnisreiches Team.

PiD: Sie verbinden so klinische Versorgung und universitäre Forschung?

M. Fichter: Genau diese Verbindung ist mir wichtig. Das ist für mich beruflich das wichtigste Ziel.

PiD: Herr Fichter, wie war die Entwicklung der Ess-Störungen aus Ihrer Sicht? Anfang der 80er Jahre habe ich das selbst in Heidelberg in der Klinik erlebt, dass allmählich bulimische Patientinnen aufgenommen wurden. Die Patientinnen mit Magersucht kannten wir dagegen schon lange. Wie stellt sich das aus Ihrer Sicht dar? Sehen Sie eine Zunahme der Bulimie als Erkrankung seit den 80er Jahren oder haben wir nur gelernt, die Bulimie auch zu erkennen?

M. Fichter: Ich war 1981 auf einer sehr guten internationalen Tagung über Ess-Störungen in Toronto, die von Garfinkel ausgerichtet wurde. Dort stellten Amerikaner Ergebnisse von Presseaufrufen und von Studien in Universitäten und Colleges vor: Es wurden unglaublich hohe Zahlen der Häufigkeit von Bulimie referiert. Damals dachte ich mir, dass dies eine typisch amerikanische Übertreibung ist und wir so etwas in Deutschland nie finden würden. Ich habe aber dann, als ich zurückkam, vermehrt darauf geachtet - ich war damals in der Universitätspsychiatrie in München. Und ich habe gemerkt, dass diese Patientinnen und Patienten bei uns in Deutschland unter einem gänzlich anderen Label liefen. Die Diagnose „Bulimia nervosa” wurde einfach nicht verwendet, obwohl sie im DSM ja schon 1980 eingeführt wurde. Das lief unter Depression, unter Suizidversuch, unter Borderline, aber nicht unter Bulimia nervosa. - Jetzt zu der Frage: „Hat das zugenommen?” Es gibt da leider keine epidemiologischen Untersuchungen, die das mit dem gleichen Instrumentarium über die Jahrzehnte untersucht haben. Der klinische Eindruck ist aber: Ja, das hat über die Jahre - sagen wir mal von 1975 bis heute - schon zugenommen, wahrscheinlich schon in den 70er und 80er Jahren.

PiD: Herr Fichter, was ist denn für Sie eine Bulimie? Können Sie das aus Ihrer Erfahrung und aus Ihrer Vorstellung definieren?

M. Fichter: Das können wir auf verschiedenen Ebenen definieren. Eine Ebene, die brauche ich jetzt nicht weiter auszuführen, weil sie vielerorts beschrieben ist, ist die der diagnostischen Kriterien, z. B. nach DSM-IV, die ich insgesamt sehr gut finde. Aber sie sind natürlich auch von einer gewissen Willkürlichkeit: also so und so häufig Heißhungerattacken und gegensteuernde Maßnahmen in einer definierten Zeit. Das ist Willkür. Wenn jetzt eine Betroffene dieses Symptom ein halbes Mal weniger hat, erfüllt sie die Diagnose nicht, obwohl sie vom Wesen her natürlich bulimisch ist.
Jetzt vom Wesen her. Wenn ich das jetzt mehr philosophisch sehe und an Kafka denke, dann trifft für die Bulimia-nervosa-Patienten das zu, was er in seinem „Hungerkünstler” beschreibt: „Sie haben die Speise nicht gefunden, die sie suchten.” Es geht um Emotionen! Es ist eine Erkrankung, die sich zwar im Essen ausdrückt, das ist aber die Arena, in der es ausgetragen wird. Das gilt auch für die anderen Ess-Störungen. Was die Essenz ausmacht: Diese Patienten haben Probleme in der Wahrnehmung von Gefühlen. Gefühle werden durch die Ess-Störung überflüssig oder weggedrängt. Damit wird die Verarbeitung von Gefühlen überflüssig, der Ausdruck von Gefühlen, auch in dem interpersonalen Umgang mit anderen. Diese Menschen können Frustration oder Ärger nicht in angemessener Weise zum Ausdruck bringen, weil sie diese nicht mehr wahrnehmen. Vermutlich wird dies im Rahmen der bulimischen Ess-Störung verlernt oder ist nie gelernt worden.

PiD: Und das wäre dann der psychopathologische Mechanismus, der die Ess-Störung unterhält?

M. Fichter: Das wäre jetzt auf einem relativ abstrakten Niveau gesehen. Das ist eine Betrachtungsweise, die ich für relevant halte. Im internationalen Schrifttum wird bei den Ess-Störungen auf die Ess-Störung fokussiert, auf die Emotionsseite wird zumindest in der verhaltenstherapeutischen Literatur zu wenig eingegangen.

PiD: Machen Sie eine Unterscheidung zwischen Anorexie und Bulimie? Manche sagen, das sind lediglich unterschiedliche Ausprägungen desselben Grundproblems. Oder würden Sie zwei unterschiedliche Erkrankungen sehen?

M. Fichter: Also, wenn wir uns alle Typen von Ess-Störungen anschauen, dann denke ich, dass es sich bei restriktiv Magersüchtigen wirklich um etwas anderes handelt. Gleichwohl entwickeln etwa 30 % der restriktiv Magersüchtigen, die wir im Verlauf untersucht haben, später bulimische Symptome. Also gibt es auch da wieder Übergänge. Und dann gibt es die bulimische Anorexia nervosa, Bulimia nervosa (nach DSM-IV unterteilt in Bulimia nervosa Purging-Type und Bulimia nervosa Non-Purging-Type) sowie Binge-Eating-Disorder (BED): Die Krankheiten hängen natürlich alle, von der Pathogenese, von ihrer Essenz, von ihrem Wesen her gesehen, sehr eng zusammen, haben aber jeweils einen anderen Akzent. Patientinnen mit BED haben nicht selten Übergewicht; bulimisch Magersüchtige haben per definitionem Untergewicht. Mit dem pathologischen Gewicht kommen zusätzliche Probleme mit hinein, die auch die Prognose beeinflussen. Auch das Vorliegen bulimischer Symptome bei AN beinhaltet besondere Risiken. So waren in einer eigenen 12-Jahres-Katamnese alle verstorbenen magersüchtigen Patientinnen solche mit einer bulimischen Anorexia nervosa. Im Schrifttum ist es nicht ganz so krass, geht aber auch in diese Richtung. Es sind weniger die restriktiv Magersüchtigen, sondern die bulimisch Magersüchtigen, die versterben, weil die sozusagen ein doppeltes Risiko haben, das Untergewicht und die bulimische Symptomatik.

PiD: Können Sie dem zustimmen, dass die Bulimie eine sehr schwere Erkrankung ist, die dringend einer Behandlung bedarf? Bei der Magersucht ist es ja meist offensichtlich. Bei der Bulimie wird das im allgemeinen Bewusstsein oft abgewiegelt als eine zwar absonderliche Verhaltensweise, aber ohne Krankheitswert. Das wird zunehmend auch von Krankenkassen so gesehen, die dann die notwendigen Behandlungskosten bei den oft noch sehr jungen Frauen mit schwerer Bulimie verweigern und in die Rehabilitation abschieben wollen, wobei die Behandlungserfolge doch recht gut sind.

M. Fichter: Bei der Magersucht ist es ja fast unumstritten, aber vielleicht noch zu wenig bekannt. Als ich im Dezember 98 eine Übersichtsarbeit zur Mortalität psychischer Erkrankungen im British Journal of Psychiatry las, wurde es mir klarer denn je: Magersucht ist die psychische Erkrankung (von polytoxikomanen Junkees einmal abgesehen) mit der höchsten Sterblichkeit! Dies hatte ich schon lange vermutet. Bei Bulimia nervosa gibt es - wie auch bei Magersucht - eine große Bandbreite. Wir haben z. B. damals, 1984, als ich aus den USA zurück war, einen bundesweiten Presseaufruf gemacht, und es haben sich 3500 Betroffene gemeldet. Sie meldeten sich auf eine kleine Anzeige mit dem Vermerk, wer eine bulimische Ess-Störung habe, könne an die Uni München schreiben und einen Fragebogen ausfüllen. Und wir haben auch jene Betroffenen mit Bulimia nervosa im Verlauf untersucht, die in der Folge keine Therapie hatten. Und das zu Erwartende, aber andererseits auch Frappierende: Sie hatten einen guten Verlauf. Diese Betroffenen zeigten insgesamt eine weniger schwer ausgeprägte Psychopathologie und eine geringere psychiatrische Komorbidität, und sie kamen im weiteren Verlauf mit eigener Hilfe oder mit Hilfe der Nachbarn, Freunde oder Familie aus der Sache heraus.

PiD: Wir haben ja keine wirklich zuverlässigen epidemiologischen Daten, vielleicht können wir sie auch nie haben. Wenn Sie das einmal aus Ihrer Erfahrung schätzen würden: Wie hoch ist eigentlich die Prävalenz einer wirklich krankheitswertigen Bulimie? Wir wissen beide, dass das jetzt keine wissenschaftliche Aussage ist - aber wie sehen Sie das aus Ihrer jahrzehntelangen Beobachtung und Erfahrung?

M. Fichter: Das ist natürlich ein etwas spekulativer Bereich. Wir sehen hier in einer Klinik, die hauptsächlich stationär behandelt, eine besondere Selektion schwer Erkrankter. Aber wie ich aus dieser Presseaufruf-Studie schon habe anklingen lassen, gibt es auch jene, die einen blanderen Verlauf haben und sich ggf. auch ohne Therapie wieder bessern. Nicht selten bleibt eine leichtere Bulimia vor den Familienangehörigen verborgen. Nach der epidemiologischen Literatur gehe ich aus von einer Punktprävalenz von 0,5 % für Magersucht - ich spreche von Frauen im Alter von 14 bis 35 Jahren. Deutlich häufiger ist Bulimia nervosa von Krankheitswert, die nahe an 3 % herankommt.

PiD: Die auch behandelt werden müssen.

M. Fichter: Die früher oder später behandelt werden sollten, ja. Und die Punktprävalenz von Binge-Eating-Disorder dürfte ebenfalls bei ca. 3 % liegen.

PiD: Und wie häufig sind solche passageren anorektischen oder bulimischen Erscheinungen?

M. Fichter: Passagere anorektische oder bulimische Syndrome finden sich deutlich häufiger. Typischerweise findet sich in der Vorgeschichte von Frauen mit Magersucht oder Bulimia, dass sie häufiger Diäten machten. Viele Frauen machen Diäten, aber einige bleiben dran hängen. Die meisten kommen auch alleine wieder mehr oder weniger davon weg, kommen nicht in das Stadium, in dem ihr ganzes Denken ums Essen und Nichtessen usw. kreist.

PiD: Die Kerngruppe der wirklich Kranken wäre mit 3 % wirklich sehr hoch. Zumal es auf Frauen, und nicht auf die gesamte Bevölkerung bezogen werden muss. Woher kommt diese Erkrankung? Sind Sie der Meinung, dass soziokulturelle Faktoren einen starken Einfluss bei der Entwicklung dieses Krankheitsbildes haben, oder spielen genetische Symptome eine Rolle dabei?

M. Fichter: Wir sind an einer großen internationalen genetischen Studie der ‘Price-Foundation’ beteiligt. Wir würden dies nicht tun, wenn wir das für völlig absurd halten würden. Es gibt ja Untersuchungen auch von Psychosomatikern wie Schepank, über die ich anfangs erstaunt war, die für Magersucht eine extrem hohe Zwillingskonkordanz bei eineiigen Zwillingen fanden. Wir haben das selbst auch untersucht und fanden sowohl für magersüchtige als auch für bulimische PatientInnen eine weit überzufällig hohe Konkordanz bei eineiigen Zwillingen. Ja, ich bin der Meinung, dass es irgendwelche genetischen Faktoren gibt. Man wird nicht erwarten können, dass es das eine Gen für Anorexia oder Bulimia nervosa gibt. Es gibt Dispositionen an einer anorektischen oder bulimischen Ess-Störung zu erkranken und dies wird sich an verschiedenen Genen und verschiedenen Chromosomen niederschlagen. Andererseits zeigt uns der Anstieg der Bulimia nervosa in den letzten Jahrzehnten auch, dass dies eine schlafende Krankheit war. Und die Patienten mit ähnlichen Dispositionen haben wahrscheinlich zu anderen Zeiten andere Krankheiten gehabt, wie z. B. eine Depression, eine somatoforme Störung oder „Hysterie”. Ein Kollege sagt, er sieht auch heute häufiger PatientInnen mit einer Hysterie in einem psychiatrischen Konsiliardienst eines Großkrankenhauses. Wir sehen eine hysterische Erkrankung dagegen nur sehr selten bei unseren PatientInnen. Es scheint da Veränderungen über die Jahrzehnte und Jahrhunderte zu geben. Die Zunahme an Ess-Störungen, die ja offensichtlich über die zurückliegenden Jahrzehnte stattgefunden hat, wäre kaum denkbar ohne den Druck, den Medien hinsichtlich Schlankheitsideal und Formeln wie „schlank = schön = erfolgreich” entfaltet haben. Auch die Industrialisierung der Nahrungsmittelerzeugung („Du darfst”, Weightwatchers) wird mit zur Verbreitung von Ess-Störungen beigetragen haben. Sowohl soziokulturelle als auch genetische Faktoren spielen eine Rolle.
Es gibt da eine interessante anthropologische Auffassung, diese Hypothese von Brown. Wenn man es mal von der anderen Seite her sieht: Es gab noch nie eine Zeit, in der die Menschheit so viel Überfluss an Nahrungsmitteln über so lange Zeit ausgesetzt war, mit all seinen Folgen, die ja bekannt sind (Übergewicht und Herzkreislaufstörungen, Gelenke, orthopädische Probleme usw.). Da hilft im Grunde nur eine gesellschaftliche Gegenregulation, die letztlich nur über gesellschaftlichen Druck funktionieren kann, durch Ideale, die uns in eine andere Richtung drängen, nämlich schlank zu sein. Dieses Schlankheitsideal ist sehr stark in unserer Gesellschaft verbreitet. Nicht nur wegen der Industrie. Die Industrie würde auch Sachen erfinden, um dick zu werden, wenn dies das Ideal wäre. Unter dieser Hypothese macht es Sinn, dass es dieses Schlankheitsideal in dieser dominanten Form gibt. Es bewahrt vielleicht die Mehrheit in der Gesellschaft davor, in dieser Zeit des Überflusses sehr übergewichtig zu werden. Aber einige kippen auf der anderen Seite hinten herunter, das sind die Magersüchtigen und die bulimischen PatientInnen.

PiD: Haben Sie eine Erklärung, warum es dann überwiegend Frauen betrifft, geradezu eine Frauenkrankheit ist?

M. Fichter: Die Männer haben den Alkohol. Wenn man betrachtet, wo sich Männer und Frauen in der Häufigkeit von Erkrankungen unterscheiden: Bei Depressionen gibt es gewisse Unterschiede, bei Ängsten gibt es gewisse, die sind aber nicht so krass. Der krasseste Unterschied ist beim Alkoholismus.
Wir alle kennen die männlichen Patienten, gerade hier in Bayern natürlich, die sind gewohnt, ihre zwei Maß Bier am Tag zu trinken. Die Spiegeltrinker, die sich gar nicht als Alkoholiker fühlen. Oder auch die Problemtrinker, die gegen ihre Probleme antrinken. Die Magersüchtigen, wenn sie emotionale Probleme haben, drängen es weg durch Nichtessen, die bulimischen Frauen drängen es mit Heißhungerattacken weg. Selye, der Stressforscher, hat einmal sinngemäß gesagt: „Ein voller Magen kann das Hirn besänftigen”. Auch aus dieser Perspektive können wir bulimische Attacken verstehen. Bei Heißhungerattacken findet physiologisch im Körper etwas statt. Dies berichten auch bulimische PatientInnen: Eine Essattacke beruhigt, besänftigt, drückt die Probleme weg.

PiD: Was wir aus den Therapien wissen, bestätigt Ihre Hypothese: In dem Moment, wenn das Symptom reduziert wird, können emotionale Prozesse in Gang gesetzt werden, die dann von vielen Patientinnen oder Patienten nur schwer ertragen und integriert werden können. Um jetzt einmal zur Therapie zu kommen: Müssen wir nicht gerade bei dieser Krankheitsgruppe über das Schulendenken hinausgehen und die psychotherapeutischen Möglichkeiten der verschiedenen schulischen Perspektiven nutzen? Sie sagten vorhin, die Verhaltenstherapie sieht das gestörte Essverhalten im Vordergrund, ...

M. Fichter: Zu sehr, und sie ist noch heute vielerorts zu wenig offen für die Emotionen.

PiD: So wie die Psychoanalyse oft ausschließlich die Emotionalität sieht, ohne sich mit dem konkreten Essverhalten zu beschäftigen. Würden Sie das so sehen können, dass diese Ess-Störungen so etwas wie einen integrativen Psychotherapieansatz erwarten lassen oder sogar fordern?

M. Fichter: Also, das kann ich klar bejahen. Ich hoffe, dass es in zehn oder zwanzig Jahren so aussehen wird, dass es keine Therapieschulen mehr gibt, sondern dass wir alle eine empirisch und wissenschaftlich fundierte Psychotherapie durchführen. Nur solche Interventionen sollten dann zum Einsatz kommen, deren Wirksamkeit wissenschaftlich nachgewiesen ist - unabhängig davon, in welcher Therapieschule dies entwickelt wurde. So kann es zu einem kontinuierlichen Fortschritt kommen - sowohl in der Theoriebildung als auch bei der Überprüfung der Hypothesen als auch in der Entwicklung neuer wirksamer Therapien. Da sind wir noch eine Ecke weg, weil die Besitzstände hinsichtlich Psychotherapieausbildung und Ausübung von Psychotherapie verteidigt werden. Wenn jemand sehr viel in eine Verhaltenstherapieausbildung investiert hat und er künftig andere Formen der Psychotherapie ausüben soll, so wird dies bei ihm zu einer kognitiven Dissonanz führen. Und analog wird es sein, wenn jemand sehr viel in eine psychoanalytische oder tiefenpsychologisch fundierte Therapieausbildung investiert hat und er später an der Ausübung dieser Form von Therapie gehindert wird. Aber wir leben in einer Zeit, in der zunehmend die von der einen Schule mit der anderen sprechen und zunehmend mehr Austausch stattfindet. Und ich habe da recht viel Hoffnung für die Zukunft.

PiD: Wo sehen Sie die Ziele für eine Behandlung bei Bulimie?

M. Fichter: Also generell würde ich sagen, ob stationär oder ambulant, eine Therapie sollte nicht unermesslich hohe, sondern überschaubare Zielsetzungen haben, die in einem definierten Zeitraum erreichbar sind. Und man kann ggf. zu einem späteren Zeitpunkt dann weiterführende Ziele angehen. Die Ziele sollten nicht utopisch, sondern klar umrissen und begrenzt sein. Wir erleben es im Klinikalltag, dass bulimische PatientInnen auch bisweilen mit einem „bulimischen Anspruch” an die Therapie kommen, mit zu großen Erwartungen und passiven Versorgungswünschen. Und das macht natürlich keinen Sinn. Sondern man muss dann auf kleine Schritte, Etappenziele achten. Wir beenden dann oft die stationäre Behandlung vorzeitig, lange vor einem wirklichen letztendlichen Abschluss der Therapie. Wir geben den PatientInnen Hausaufgaben mit auf den Weg. Eine Hausaufgabe besteht darin, Dinge z. B. zu Hause zu klären, die anstehen: Entscheidung und Einschreibung für ein Studienfach, Suche einer Wohnung, Abarbeiten von Schulden oder Klärung eines Konfliktes mit dem Partner. Und wenn die Entwicklung durch eigenes aktives Zutun ein Stück weitergeführt ist und neue Themen anstehen, dann kann eine begrenzte Vertiefung der Therapie ins Auge gefasst werden.

PiD: Wie lange sind die Patienten bei Ihnen in der Klinik? Haben Sie eine feste Zeiteinheit?

M. Fichter: Nein, das orientiert sich an den Problemen, das ist unterschiedlich. Im Durchschnitt haben unsere PatientInnen mit Ess-Störungen eine etwas höhere Aufenthaltsdauer als PatientInnen mit Angststörungen oder einer Depression.

PiD: Das ist auch bei uns in der Klinik so.

M. Fichter: Eine besonders lange stationäre Aufenthaltsdauer haben Magersüchtige, die bei Aufnahme ein sehr niedriges Gewicht haben. Wenn eine Magersüchtige mit ca. 30 kg zur Aufnahme kommt und die Therapie insgesamt gut läuft und sie pro Tag 150 Gramm an Gewicht zunimmt, dann dauert es über 130 Tage, bis sie ein Gewicht von 50 kg hat. Natürlich muss so eine Gewichtszunahme von der Patientin auch innerlich akzeptiert werden - sonst wird sie das Gewicht sehr schnell wieder verlieren. Bei bulimischen und anorektischen Ess-Störungen geht es vordergründig um Essen und Gewicht. Im Wesentlichen aber geht es um Selbstvertrauen, Selbstakzeptanz, Körperwahrnehmung und Emotionen. Im Bereich der Verhaltenstherapie ist derzeit die „Kognitive Verhaltenstherapie” en vogue. Es reicht allerdings nicht, bei essgestörten PatientInnen nur an den Kognitionen zu arbeiten. Es reicht nicht aus, allein im sokratischen Dialog das Für und Wider bestimmter Gedanken, Überzeugungen und Werthaltungen zu bearbeiten. Die Therapie darf nicht bei der Bearbeitung der Kognitionen stehen bleiben. Sie muss auch bis zu Körperwahrnehmungen, der Wahrnehmung von Gefühlen und dem - zuerst kathartischen, dann adäquaten - Ausdruck von Gefühlen vordringen.

PiD: Obwohl sie jetzt natürlich die Fahne der Verhaltenstherapie hochhalten müssten, sag ich mal,...

M. Fichter: ... nicht als Schule...

PiD: ... würden Sie aber doch sagen, dass gerade unterschiedliche therapeutische Ansätze innovative Möglichkeiten für die Behandlung bieten. Wir haben beispielsweise bei uns in der Klinik die Konzentrative Bewegungstherapie, die bei der Behandlung der Ess-Störungen eine sehr wichtige Rolle spielt.

M. Fichter: Auch wir arbeiten mit körperorientierten Therapieformen und evaluieren dies. Frau Alexandridis in unserem Hause führt ein Projekt über die Barz-Stiftung durch. Wir haben auch ein Projekt über Feldenkrais-Therapie bei Bulimia nervosa gemacht.
Die Eating Disorders Research Society-Tagung im Herbst 2000 in Prien war eine interessante Veranstaltung - von Fairburn inspiriert und geleitet. Er stellte dem Auditorium die Frage: Wie wird die Therapie der Ess-Störungen in zehn Jahren aussehen, wie ist die Therapie der Zukunft? Und da gab es natürlich sehr unterschiedliche Antworten: Einige sprachen von einem Potenzial der biologischen bzw. der molekulargenetischen Ansätze. Vielleicht wird es künftig Medikamente geben, die noch besser wirken als die, die es heute gibt. Der Magersucht ist allerdings bis heute „kein Kraut gewachsen”. Hinsichtlich der kognitiven Verhaltenstherapie wurde bis dato viel geschrieben und geforscht. Auch hier wird es Änderungen geben. Interessant ist es, dass bei Bulimia nervosa auch Therapien wie Interpersonale Therapie (IPT) wirksam sind, die auf eine Veränderung von Interaktionen und Beziehungen (und überhaupt nicht auf eine Änderung des Essverhaltens) abzielen. Sehr interessant sind auch die Befunde in körperorientierten Therapien wie Konzentrativer Bewegungstherapie oder anderen. Wir haben vor Jahren in PPmP Ergebnisse zur Wirksamkeit der Feldenkrais-Methode veröffentlicht. Das Interessante daran ist, dass bei der Feldenkrais-Methode die traditionelle verbale Interaktion zwischen Patient und Therapeut im Gespräch nicht in dieser Form besteht wie bei VT oder tiefenpsychologischer Therapie. Dem Wort und dem Gespräch kommt bei diesem körperorientierten Verfahren eine sehr viel geringere Bedeutung zu. Vielleicht wird es künftig Therapieformen für Betroffene mit einer Ess-Störung geben, die gänzlich ohne Worte ablaufen.

PiD: Sodass wir im Grunde genommen vielleicht mehr Mut haben sollten, andere Verfahren zu erproben, unter wissenschaftlichen Bedingungen zu erproben, und nicht von vornherein deswegen auszugrenzen, weil manche Verfahren nicht die Chance hatten, in einem guten wissenschaftlichen Kontext ihre Möglichkeiten aufzuzeigen. Würden Sie das auch so sehen, dass wir eigentlich noch experimentieren müssen, auch um diese doch schwer verstehbaren Krankheiten besser behandeln zu können?

M. Fichter: Wenn ich auf einer Tagung bin, bei der es Workshops gibt, mache ich immer auch Workshops in für mich völlig sachfremden Gebieten mit, weil ich mir erhoffe, Anregungen zu bekommen.

PiD: Zum Schluss möchte ich noch eine andere Seite ansprechen: Gerade die Bulimie hat ja ein großes Öffentlichkeitsinteresse, z. B. in den Zeitschriften. Emma hat kürzlich den Ess-Störungen ein ganzes Heft Bulimie gewidmet. Frau Schwarzer hatte ich auch einmal geschrieben, weil irgendwo ein Interview mit ihr war, in dem sie der Behauptung nicht widersprochen hat, dass jedes zweite Mädchen Anorexie hätte, was von einer Journalistin behauptet wurde. Also es hat ein Öffentlichkeitsinteresse.

M. Fichter: Filmschauspieler wie Jane Fonda haben sich dazu bekannt.

PiD: Ja genau.

M. Fichter: Und Lady Di hat sich „geoutet”.

PiD: Worin würden Sie denn eine gesellschaftliche Aufgabe sehen, hier weiterzuhelfen? Wir beide kommen ja aus dem therapeutischen Bereich, und zu uns kommen diejenigen, die schon sehr krank sind mit den oft dramatischen Verläufen. Aber was sollte getan werden, damit nicht so viele Menschen überhaupt erst so schwer erkranken? Hätten Sie dazu eine Vorstellung?

M. Fichter: Ja, habe ich. Also das Naheliegendste wäre natürlich Prävention. Prävention im Kindergarten und in Schulen. Es hat sich aber gezeigt, dass das gar nicht so leicht ist. Manches, was als Prävention intendiert war, verstärkte die Entwicklung von Ess-Störungen statt sie zu verhindern. Es reicht nicht, sich vor eine Schulklasse zu stellen und zu sagen: „Es gibt Ess-Störungen” und „Steckt euren Finger nicht in den Hals”.

PiD: Also Aufklärung könnte auch zu höheren Prävalenzen führen?

M. Fichter: Es muss noch wirklich viel Arbeit geleistet werden, um sinnvolle und wirkungsvolle Präventionsprogramme zu entwickeln. Fairburn hat dazu im Oxforder Raum eine interessante Studie gemacht. Wir selbst haben einen sehr guten Kontakt zu den umliegenden Schulen und gehen da auch rein. Wir versuchen das aber kritisch zu machen und nicht in dem Sinne: „So, wenn wir denen jetzt ein bisschen über das Krankheitsbild erzählen, dann hören die damit schon auf”.

PiD: Das nehmen Sie als Aufgabe ernst.

M. Fichter: Das nehme ich als Aufgabe sehr ernst. Als wir 1984 einen Presseaufruf zum Thema Bulimia nervosa machten und wir von mehr als 3500 Zuschriften und Anrufen überschwemmt wurden, fassten wir die Gründung einer Selbsthilfeorganisation ins Auge. Und da haben wir damals, weil wir uns sagten, wir können das gar nicht alles selbst bewältigen - damals war Klinik Roseneck ja auch noch gar nicht in Sicht -, eine Selbsthilfeorganisation gegründet, die es auch heute noch gibt, den ‘Cinderella - Aktionskreis Ess- und Magersucht’. Aus dieser Organisation heraus entwickelte sich dann noch eine andere erfolgreiche Selbsthilfegruppe - ANAD -, die etwas andere Akzente hat. Beide sind weiterhin aktiv, nicht nur im Münchener Raum, sondern auch darüber hinaus. Die Selbsthilfe Betroffener kann unser aller therapeutische Arbeit sehr gut ergänzen. Natürlich gibt es noch viel mehr, was auf gesellschaftlicher Ebene zur Prävention und Linderung von Ess-Störungen getan werden kann.

PiD: Sollten nicht noch mehr solcher Behandlungszentren eingerichtet werden wie z. B. hier in Prien oder in München, in Heidelberg bei Prof. Herzog oder wie bei uns in Essen? Dass man das auch einklagt in der Gesundheitspolitik, dass das Problem der Ess-Störungen deutlicher gesehen wird und mehr für diese Patientengruppe getan wird? Wir erleben ja, wie gesagt, eher eine restriktiver werdende Haltung z. B. bei den Krankenkassen bezüglich der Kostenübernahme gerade bei Bulimia nervosa.

M. Fichter: Ja, hier bedarf es noch Überzeugungsarbeit; auch hinsichtlich der Forschung müsste mehr geschehen. Vielleicht kann man das Bundesministerium für Forschung und Technologie dafür gewinnen, auch ein Kompetenznetzwerk für Ess-Störungen einzurichten. Bisher hatten wir da noch nicht die richtige Lobby.

PiD: Gemessen auch an psychiatrischen Erkrankungen sind die Ess-Störungen eine immens große Gruppe. Mit bis zu 1 % Anorexia, 3 % Bulimie, 3 % Binge-Eating-Störung sind das ja bis zu 6-7 % junger Frauen! Das muss man wirklich einmal deutlich sagen. Und es betrifft ja durchweg junge Menschen mit zum Teil furchtbaren Schicksalen. Würden Sie das auch so sehen?

M. Fichter: Ja.

PiD: Also ich glaube, dass über das Ausmaß der Ess-Störungen und über die Folgeerscheinungen einer ausgeprägten Ess-Störung, die nicht angemessen behandelt wird, bis heute noch viel zu wenig Klarheit besteht.

M. Fichter: Ja, sehe ich auch so.

PiD: Herr Fichter, ich danke Ihnen für das Gespräch.

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