Gesundheitswesen 2000; 62(4): 196-206
DOI: 10.1055/s-2000-10859
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Kosteneffektivität der orthoptischen Reihenuntersuchung im Kindergarten zur Früherkennung visueller Entwicklungsstörungen1

H.-H König1 , J. C. Barry2 , R. Leidl1 , E. Zrenner2
  • Abteilung Gesundheitsökonomie, Universität Ulm
  • Augenklinik Abteilung II, Sektion für Motilitätsstörungen, Universität Tübingen
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Publication Date:
31 December 2000 (online)

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Zusammenfassung

Zielsetzung: Orthoptische Reihenuntersuchungen im Kindergarten in der Altersgruppe von 3 bis unter 4 Jahren sind eine Option zur Verbesserung der Früherkennung von unbehandelten Amblyopien. Ziel der Studie ist die Analyse der Kosteneffektivität einer solchen zusätzlich eingeführten Reihenuntersuchung. Methodik: Basierend auf Daten aus der Literatur und aus selbst in Kindergärten durchgeführten orthoptischen Untersuchungen wurde ein entscheidungstheoretisches Modell entwickelt. Danach werden alle Kindergartenkinder im Alter von 3 bis unter 4 Jahren, die nicht bereits wegen einer Amblyopie in Behandlung sind, im Kindergarten orthoptisch untersucht. Nicht kooperierende Kinder werden im Kindergarten ein Jahr später orthoptisch kontrolliert. Kinder mit positiven Befunden werden zur Diagnosestellung einem Augenarzt vorgestellt. Als Effektgröße wurde die Anzahl der neu entdeckten Fälle von behandlungsbedürftigen Amblyopien, amblyogenem unaufälligem Schielen und amblyogenen Refraktionsfehlern festgelegt. Als Kosten wurden die direkten Kosten aus der Perspektive eines potenziellen Kostenträgers ermittelt. Unsichere Annahmen wurden durch Sensitivitätsanalysen geprüft. Ergebnisse: In der Basisanalyse betragen die Kosten je orthoptischer Untersuchung 15,39 DM. Eine augenärztliche Untersuchung kostet 71,20 DM. Die Gesamtkosten der Durchführung des Screeningprogramms in allen deutschen Kindergärten belaufen sich auf 6,1 Mio. DM. Bei einer altersspezifischen Prävalenz von 1,5 % neu behandlungsbedürftigen Kindern, einer Sensitivität von 95 % und einer Spezifität von 98 % werden 4261 Fälle entdeckt. Die Kosteneffektivitätsrelation beträgt 1421 DM je entdecktem Fall. Die Sensitivitätsanalyse zeigt einen großen Einfluss der Prävalenz sowie der Spezifität auf die Kosteneffektivität. Eine erneute orthoptische Untersuchung von kontrollbedürftigen Kindern im Folgejahr im Kindergarten ist kosteneffektiver als die sofortige Kontrolle durch den Augenarzt. Schlussfolgerung: Das entscheidungstheoretische Modell erbrachte stabile Ergebnisse, die als Grundlage einer Diskussion über die Einführung einer Reihenuntersuchung sowie zur Planung einer Feldstudie genutzt werden können.

Cost-Effectiveness of Orthoptic Mass Screening in Kindergarten for Early Detection of Visual Development Disorders

Purpose: Orthoptic screening in the kindergarten is one option to improve early detection of amblyopia in children aged 3 years. The purpose of this study was to analyse the cost-effectiveness of such a screening programme in Germany. Methods: Based on data from the literature and own experience gained from orthoptic screening in kindergarten a decision-analytic model was developed. According to the model, all children in kindergarten, aged 3 years, who had not been treated for amblyopia before, were subjected to an orthoptic examination. Non-cooperative children were reexamined in kindergarten after one year. Children with positive test results were examined by an ophthalmologist for diagnosis. Effects were measured by the number of newly diagnosed cases of amblyopia, non-obvious strabismus and amblyogenic refractive errors. Direct costs were estimated from a third-party payer perspective. The influence of uncertain model parameters was tested by sensitivity analysis. Results: In the base analysis the cost per orthoptic screening test was DM 15.39. Examination by an ophthalmologist cost DM 71.20. The total cost of the screening programme in all German kindergartens was DM 6.1 million. With a 1.5 % agespecific prevalence of undiagnosed cases, a sensitivity of 95 % and a specificity of 98 %, a total of 4,261 new cases would be detected. The cost-effectiveness ratio was DM 1,421 per case detected. Sensitivity analysis showed considerable influence of prevalence and specificity on the cost-effectiveness ratio. It was more cost-effective to re-screen non-cooperative children in kindergarten than to have them examined by an ophthalmologist straightaway. Conclusions: The decision-analytic model showed stable results which may serve as a basis for discussion on the implementation of orthoptic screening and for planning a field study. [1]

1 Diese Studie wurde gefördert durch das fortüne Programm der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen (Fördernummer 447) sowie durch die Ernst-und-Berta-Grimmke-Stiftung, Düsseldorf. Die Autoren danken Herrn Dipl.-Wirt.-Math. Thomas Klose, Abteilung Gesundheitsökonomie der Universität Ulm, für wertvolle Kommentare zu diesem Beitrag.

Literatur

Fußnoten

1 Diese Studie wurde gefördert durch das fortüne Programm der Medizinischen Fakultät der Universität Tübingen (Fördernummer 447) sowie durch die Ernst-und-Berta-Grimmke-Stiftung, Düsseldorf. Die Autoren danken Herrn Dipl.-Wirt.-Math. Thomas Klose, Abteilung Gesundheitsökonomie der Universität Ulm, für wertvolle Kommentare zu diesem Beitrag.

3 Der Wert entspricht ca. 2/3 des kleinsten oben genannten Prävalenzwertes (1,3 %) für Refraktionsfehler [26].

4 Die Sensitivität ist der Anteil der Krankheitsfälle in der untersuchten Population, die vom Test als krank erkannt werden. Die Spezifität ist der Anteil der Gesunden in der untersuchten Population, die vom Test als gesund eingestuft werden.

5 Je halbtags für das Programm tätiger Orthoptistin ergeben sich bei 220 Arbeitstagen pro Jahr maximal 2 * 220 * 4/5 = 352 Kindergartenbesuche. In der Praxis kann sich auch eine geringere Jahresarbeitszeit ergeben. Möglichen Abweichungen wird durch die Sensitivitätsanalyse Rechnung getragen.

6 Errechnet aus Personalkosten BAT Vb (einschließlich Arbeitgeberanteil an Sozialversicherungbeiträgen und sonstigen Personalzusatzkosten) in Höhe von 73 200 DM pro Jahr, 220 Arbeitstagen pro Jahr und 38,5 Stunden Wochenarbeitszeit.

7 Die durchzuführende objektive Refraktionsbestimmung ist nach dem EBM nicht gesondert abrechnungsfähig.

Dr. Hans-Helmut König, M.P.H.

Universität Ulm

Abteilung Gesundheitsökonomie

Helmholtzstraße 22

89081 Ulm

Email: hans-helmut.koenig@mathematik.uni-ulm.de