Balint Journal 2018; 19(01): 33
DOI: 10.1055/s-0044-102167
Nachruf
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Zum Abschied von Prof. Dr. hc. mult. Dietrich Ritschl (1929–2018)

E. R. Petzold
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14 March 2018 (online)

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Prof. Dr. hc. mult. Dietrich Ritschl (1929-2018)

Wir begegneten uns zum ersten Mal in Ascona anfangs der achtziger Jahre bei den dortigen Internationalen Balint Treffen. Ich hinterfragte die „Balint Bewegung“, er hörte geduldig zu. Wir erlebten gemeinsam kreisende, fast wirbelartige Bewegungen im Auditorium auf die „kleine“ Provokation bis die unvergessene Melitta Mitscherlich das Lösungswort fand: „Balintarbeit ist keine Bewegung, aber sehr bewegend.“D. Ritschl stand dazu – sei es, weil es in sein Story Konzept passte [1] [2], sei es, weil er schon früh das Implizite Axiom dieser bewegenden Arbeit erkannt hatte [3]: „Wir behandeln keine Krankheiten, sondern kranke Menschen!“ Ihm ging es in dem Story Konzept darum, die Stories des Alten und des Neuen Testamentes und unsere eigene Lebensgeschichte zu bewohnen.

Wenig später kam D. Ritschl, der viele Jahre seines beruflichen Lebens im Ausland gelebt hatte (Schottland, USA, Australien, Neuseeland) nach Heidelberg (1983). Eine gemeinsame Wegstrecke der anthropologischen Medizin lag vor uns. Seine eigene Bibliographie von 1949–2016 konnte er mir noch vor wenigen Monaten selbst übergeben. In seiner Vorbemerkung zu dieser Bibliographie schreibt er: „Ich wurde Theologe, aber der Empfehlung des Großvaters nur Bücher zu schreiben, konnte ich nicht folgen. Zu stark waren die konkreten Aufgaben in der Kirche, in der Theologie, und in den damals stark besuchten Lehrveranstaltungen“.

In Heidelberg war er Prof. für Systematische Theologie und Direktor des (ersten!) ökumenischen Instituts in Deutschland: Zwei Jahre war er Dekan, 3 Jahre Prodekan. Als anlässlich der 600 Jahresfeier der Heidelberger Universität das Internationale Wissenschaftsforum gegründet wurde, leitete er dies von 1986–1996. Unter hundert Veranstaltungen, die er dort ausrichtete, war auch das Symposion über „Implizite Axiome [3]. Dieses Nachdenken über unser Denken und Handeln, über unsere Vorurteile, Abhängigkeiten und Verhaltensmuster, die im Studium und in dem Alltag unseres Medizin Betriebes eher verstärkt als kräftig hinterfragt werden, haben wesentlichen Anteil an meinem Engagement für die Balintarbeit. Wohlwollend begleitete er unsere Arbeit, u. a. auch den Ascona Balint Preis für Studierende der Medizin. Früh erkannte er ihr kritisches und notwendiges Potential für eine menschliche Medizin. Zusammen mit Prof. Luban- Plozza und anderen gründete er Mitte der neunziger Jahre die International Foundation Psychosomatic and Social Medicine, deren Geschicke jetzt Günther Bergmann zusammen mit anderen leitet. Früh öffnete Dietrich Ritschl unseren Blick für das, was Philosophie der Medizin geben kann - in der Medizinischen Ethik, in der Anthropologie und durch Wissenschaftstheorien. In all diesen Bereichen scheint ihn die Grundthese gesteuert zu haben: „Die Fragen werden aus der Praxis gestellt, aber ohne eine theoretische Rückversicherung verfehlen wir unser Ziel“. Es ging ihm in der Tat immer wieder um konstruktive Kritik und Konzentration auf das Wesentliche, z. B. auf die Methoden, die wir einsetzen, um zu erkennen und auf unsere Einstellungen zu dem, was wir tun. [4]. Seine Grundorientierung für ein ‚gelingendes Leben‘ kam sicher aus der Familie, aus dem Beruf und aus den Gesprächen mit den Freunden aus aller Welt, aber auch aus den Schweizer Bergen und der Musik, seiner Flöte, die ihn auf allen Reisen begleitete. Schwer hat ihn der Tod seiner lieben Frau Rosemarie getroffen. Nach einem Schlaganfall hatte er drei Jahre lang fast ganz allein ihre Pflege übernommen, weitere vier Jahre mit fremder Hilfe. Sie lebten nach seiner Emeritierung in Reigoldswil/CH/Bl. Friedlich ist er nach langer, schwerer, geduldig ertragener Krankheit am 11.1.2018 wenige Tage vor seinem 89. Geburtstag eingeschlafen.

Zum Schluss fragte ich ihn, ob er mit dem einverstanden wäre, was ich seine Weltformel nannte: „Der Geist war vor der Materie!“ (S. Gen. Kap. 1 V.1 und Joh. Kap.1 V.1). Er war einverstanden. „Das alles hat mir viel Freude gemacht“ war sein letztes Wort bei unserem Abschied.

E. R. Petzold, Kusterdingen

 
  • Literatur

  • 1 Ritschl D, Jones H. „ Story“ als Rohmaterial der Theologie Chr. Kaiser Verlag München 1976 S.73-75 ( Predigt bei der Beerdigung der Dichterin Marie- Luise Kaschnitz)
  • 2 Ritschl D. Zur Logik der Theologie. Kurze Darstellung der Zusammenhänge theologischer Grundgedanken. München: Chr. Kaiser Verlag; 1984. 2. A. 1988
  • 3 Ritschl D. Implizite Axiome, weitere vorläufige Überlegungen. In: Implizite Axiome: Tiefenstrukturen unseres Denkens und Handelns. Huber W., Petzold E.R., Sundermeier Th. (Hrsg.) München: Chr. Kaiser, Verlag; 1990
  • 4 Ritschl D. Philosophie in der Medizin – Eierschalen, Störenfried oder Steuerung?. Balint Journal 2003; 4: 33-37