Der Klinikarzt 2018; 47(01/02): 1-2
DOI: 10.1055/s-0044-101075
Editorial
© Georg Thieme Verlag Stuttgart · New York

Fakten und alternative Fakten

Günther J. Wiedemann
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Publication Date:
14 February 2018 (online)

Wissenschaft: Es ist nicht ihr Ziel, der unendlichen Weisheit eine Tür zu öffnen, sondern eine Grenze zu setzen dem unendlichen Irrtum. Bertolt Brecht (1898–1956)

Unendliche Weisheit, wie Bertolt Brecht es formuliert: So vermessen ist wohl kein klinisch tätiger Arzt, dass er eine solche für sich in Anspruch nehmen würde. Aber dem unendlichen Irrtum Grenzen setzen, das wäre schon was. Und nicht nur bei sich selbst, sondern auch bei den Generationen von jungen Medizinern, die nachkommen. Zugegeben: Schon die Generation der heutigen Chef- und Oberärzte hat im Studium vor Prüfungen lieber auf die Schnelle diverse Kurzkompendien der Medizin durchgearbeitet, statt sich durch mehrere tausend Seiten von Standardwerken wie beispielsweise Harrison´s Principles of Internal Medicine zu kämpfen. Und das, obwohl damals noch kein Internet zur Verfügung stand, wo man Details, wenn nötig, schnell hätte nachrecherchieren können. Dass ein solches Sicherheitsnetz fehlte, war aber gleichzeitig eine Verpflichtung: Denn was man nicht im Kopf parat hatte, war normalerweise nicht so ohne weiteres zugänglich.

Heute dagegen steht im Hintergrund gedanklich immer die Gewissheit: Wenn ich es nicht so genau weiß, kann ich es ja schnell googeln. Das beeinträchtigt die grundsätzliche Bereitschaft, sich Wissen von vornherein vertiefend anzueignen. Es ist ein Denken und Lernen in Keywords, unter denen man nach Bedarf nachschauen kann. Abgesehen davon, dass dazu am Krankenbett nicht immer ausreichend schnell Gelegenheit ist, besteht beim Rückgriff auf Suchmaschinen auch immer die Gefahr, die Quellen, die diese als erste anzeigt, tatsächlich für relevant und verlässlich zu halten. Selbst Digital Natives sind nicht unbedingt davor gefeit, evidenzbasierte Informationen mit anderen Inhalten, im schlimmsten Falle sogar „Alternativen Fakten“, sprich Fehlinformationen gleichzusetzen.

Hinzu kommt ein weiteres Phänomen, das nicht nur, aber auch durch online verfügbare Inhalte gefördert wird: Immer das Neueste erscheint als das Richtige. Dadurch geht die Kontinuität der medizinischen Entwicklung verloren. Es ist, als würde man einen Text ständig überschreiben – als wäre er wertlos, nur weil er früher geschrieben wurde. Klinische Ausbilder, also Chef- und Oberärzte, stehen dagegen für die Kontinuität der aufeinander aufbauenden Erkenntnisse in der Medizin – im Idealfall wissen sie um die Erfolge, aber auch, ebenso wichtig, um die Misserfolge der Methoden, die zur jeweils aktuell etablierten klinischen Sichtweise geführt haben. Das ist notwendig, um Entwicklungen im Kontext sehen zu können, neue Erkenntnisse einordnen zu können und die immer selben Fehler zu vermeiden.

Doch wer hat dazu wirklich Zeit? Es ist müßig, immer wieder zu beklagen, dass unter dem ökonomischen Druck in den Krankenhäusern immer weniger Zeit nicht nur für die Patienten, sondern auch für eine fundierte, systematische Aus- und Weiterbildung der jungen Kollegen bleibt. Dies prägt zunehmend die Medizin im Alltag, in der Wissenschaft und am Krankenbett. In der Klinik bleibt kaum noch Zeit für Diskurs, Analyse und kritische Fragen. Die Antworten sucht man sich dann anderswo – punktuell statt umfassend, präsentiert von Suchmaschinen statt von Kollegen, die dank langjähriger Erfahrung zu einer sinnvollen Einordnung in der Lage wären. Die, um ein Beispiel aus der Internistischen Onkologie zu bemühen, noch wissen, dass es auch vor den targeted therapies und Immuntherapien gleich oder besser wirksame, deutlich preiswertere und besser beherrschbare Therapieregime in bestimmten Situationen gegeben hat. Sie sind nur im Laufe der Zeit schlichtweg in Vergessenheit geraten – denn das Neueste ist ja immer das Beste …

Wie lässt sich gegensteuern? Vielleicht, indem man junge Kolleginnen und Kollegen dazu ermutigt, kritisch nachzufragen – zum Beispiel im Rahmen klinischer Visiten. Ausbilder sollten sich einer Pro- und Contra-Diskussion auch mit deutlich unerfahreneren Kollegen stellen. Und vielleicht hilft es auch, gelegentlich mal ein Werk zur Geschichte der Medizin zur Hand zu nehmen. Denn: „The farther you look back, the farther forward you are likely to see“ (Winston Churchill).