Pneumologie 2018; 72(02): 106-118
DOI: 10.1055/s-0044-100315
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die Lungenheilkunde und ihre Institutionen im Nationalsozialismus

Pulmonary Medicine and its Institutions During National Socialism
R. Loddenkemper
1   Berlin
,
N. Konietzko
2   Essen
,
V. Seehausen
3   Institut für Geschichte der Medizin und Ethik in der Medizin, Charité Universitätsmedizin Berlin
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Publikationsverlauf

eingereicht08. Januar 2018

akzeptiert nach Revision11. Januar 2018

Publikationsdatum:
20. Februar 2018 (online)

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Zusammenfassung

Als die Nationalsozialisten 1933 an die Macht kamen, vollzog sich in der damaligen Gesundheitspolitik ein kompletter Paradigmenwechsel unter dem Grundsatz „Gemeinnutz geht vor Eigennutz“. In den ersten Jahren gab es eine intensive Diskussion darüber, ob die Tuberkulose (TB) mehr durch Erbanlagen oder durch Infektionen verursacht wird. Schließlich wurden die Argumente von führenden TB-Spezialisten akzeptiert, dass TB überwiegend eine Infektionskrankheit ist. Im Jahr 1939, dem Jahr, in dem Deutschland den Zweiten Weltkrieg begann, war die TB-Mortalität auf dem niedrigsten Stand, nur wenige Länder hatten niedrigere Raten. Die TB-Mortalität nahm während des Krieges in allen Bereichen zu, sowohl in der zivilen Bevölkerung als auch in der Wehrmacht sowie bei Kriegsgefangenen, ausländischen Zwangsarbeitern und in den Konzentrationslagern. Arbeitsunfähige TB-Kranke galten als biologischer und sozialer „Ballast“. Sie waren für die „Volksgemeinschaft“ wertlos und mussten sozial ausgegrenzt werden. So konnte man ihnen das im Sommer 1933 eingeführte „Ehestandsdarlehen“ verweigern, ab 1935 auch das Heiraten untersagen. Ab 1938 konnten „Offentuberkulöse“, die sich uneinsichtig zeigten, als „asoziale Bazillenstreuer“ durch Amtsärzte der staatlichen Gesundheitsämter – meist Lungenärzte – zwangsweise asyliert werden. Dort fielen unter gefängnisähnlichen Bedingungen und bei knapper Verpflegung die meisten Patienten in kurzer Zeit der TB zum Opfer. Besonders unmenschlich war der Umgang mit Häftlingen in den Konzentrationslagern, wo die Krankheit stark gehäuft auftrat. Tausende erlitten dort den vorzeitigen Tod durch planmäßige Vernachlässigung bis hin zum Verhungern, durch Missbrauch für medizinische Experimente, oder sie wurden schlichtweg ermordet. Im Vergleich zu den Vorkriegszahlen stieg die TB-Sterblichkeit um 160 – 240 % an. Mit Unterstützung der siegreichen alliierten Mächte wurde das TB-Kontrollsystem umstrukturiert und die Institutionen wie DGP und DZK neu gegründet. In den folgenden Jahren verbesserte sich die TB-Situation langsam, in der BRD zunächst etwas rascher als in der DDR.

Abstract

When the National Socialists came to power in 1933, a complete paradigm shift took place in the health policy under the principle “Public interest ahead of self-interest”. In the early years there was an intense discussion about whether tuberculosis (TB) is more caused by heredity or by infection. Finally, the arguments of leading TB specialists were accepted that TB is predominantly an infectious disease. In 1939, the year Germany started World War II, TB mortality was at its lowest, with only a few countries having lower rates. TB mortality increased in all areas during the war, both in the civilian population and in the Wehrmacht, as well as in prisoners of war, foreign forced laborers and concentration camps. Incapable TB patients were considered biological and social “ballast”. They were worthless for the “national community” and had to be socially excluded. Thus one could refuse them the “marriage loan” introduced in the summer 1933, forbid starting from 1935 also the marriage. From 1938 on, TB-patients with open TB, who showed themselves unreasonable, could be compulsorily isolated as “asocial” by public health physicians – mostly pulmonary specialists. There, under prison conditions and with limited food, most patients fell victim to TB in a short time. Especially inhuman was the handling of prisoners in the concentration camps, where the disease was very common. Thousands of people were killed prematurely through deliberate neglect, starvation, abuse for medical experiments, or simply murdered. TB mortality increased by 160 – 240 % compared to pre-war levels. With the support of the victorious Allied powers, the TB control system was restructured and the institutions such as DGP and DZK were re-established. In the following years, the TB situation improved slowly, in the FRG initially slightly faster than in the GDR.