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DOI: 10.1055/s-0043-1762652
Präventionsmaßnahmen implementieren – Chancen und Herausforderungen der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis. Ein- und Ausblicke aus dem Projekt Familie+
Hintergrund Ziel des Projekts Familie+ (gefördert durch das Bundesministerium für Gesundheit) war es, bei Grundschulkindern in den Lebenswelten Schule und Familie einen gesunden Lebensstil zu fördern. Maßnahmen, die in der Schule und in Familien durchgeführt wurden, wurden wissenschaftlich begleitet und evaluiert. Durch die gesundheitsfördernden Maßnahmen sollten gewichtsbezogene Verhaltensweisen (Bewegung, Ernährung, sedentäres Verhalten, Schlaf) verbessert werden. Dabei setzten die gesundheitsfördernden Maßnahmen in den beiden für Kinder wichtigsten Lebenswelten an – in der Schule und der Familie. Hierfür wurde für beide Lebenswelten eine Sammlung gesundheitsfördernder Maßnahmen erstellt. Zu jeder schulbasierten Maßnahme gibt es eine äquivalente familienbasierte Maßnahme, um das Zusammenspiel von Elternhaus und Schule bzgl. der Gesundheitsförderung zu verbessern. Die Einbeziehung von kommunalen Akteuren (z. B. Gesundheitsamt), Schulleitungen und Lehrkräften sowie Familien über den gesamten Projektverlauf hinweg, setzt eine enge Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft(ler:innen) und Praxis(akteur:innen) voraus. In dem hier vorgestellten Beitrag beleuchten wir die Perspektiven der unterschiedlichen Projektbeteiligten und leiten aus dieser Synthese die wichtigsten Merkmale und Herausforderungen der Zusammenarbeit von Wissenschaft und Praxis ab.
Methoden Das Projekt Familie+ beinhaltet drei Phasen: 1) Entwicklung, 2) Implementierung und Evaluation und 3) Transfer und Verbreitung. In allen drei Phasen waren/sind die verschiedenen Praxisakteur:innen beteiligt. Die gesundheitsfördernden Maßnahmen wurde in 47 Klassen aus 9 Grundschulen in drei Modellregionen (Landkreis Oberhavel, Saarpfalz-Kreis, Stadt Leipzig) durchgeführt und begleitet. Das Studiendesign folgte einer unkontrollierte hybride Effektivitäts-Implementierungs Evaluation mit einem mehrstufigen „mixed methods“ Ansatz. Hierbei kamen in den Projektphasen Online-Fragebögen, Einzel- sowie Fokusgruppeninterviews mit Familien, Lehrkräften, und kommunalen Akteuren zum Einsatz. Nach einer Synthese der Daten wurden zunächst qualitative Inhaltsanalysen durchgeführt. Ziel war es, Aspekte, in denen sich Merkmale und Herausforderungen manifestieren, zu identifizieren und daraus übergeordnete Kategorien abzuleiten. Diese Kategorien wurden anschließend den entsprechenden Aspekten des Wissenschaftssystems gegenübergestellt.
Ergebnisse Wir fanden in den Aussagen von Familien, Lehrkräften und Schulleitungen sowie kommunalen Akteur:innen Hinweise auf diverse Probleme in der Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft und Praxis. Während beispielsweise „die Wissenschaft“ in ihrem Streben nach „qualitativ hochwertigen Daten“ dazu tendiert, die Implementierungs- und Evaluationsprozesse zu standardisieren und zu kontrollieren (d.h. Störvariablen, Einflüsse von außen soweit es geht auszuschalten), ist dieses Vorgehen für die Umsetzung in der Praxis untauglich und geht an der Realität der Praxisakteur:innen vorbei. Im Gegensatz dazu haben diese die Erwartung und den Bedarf, die Abläufe größtmöglich zu individualisieren und an die spezifischen Gegebenheiten nicht nur der Kommune, sondern auch der Schulen oder einzelnen Klassen anzupassen, was wiederrum die Wissenschaft vor Herausforderungen hinsichtlich der Evaluation stellt. Insgesamt reflektieren die Aussagen eine Fehlpassung zwischen der für wissenschaftliche Projekte üblichen und erforderlichen „rigiden“ wissenschaftlichen Vorgehensweise einerseits und den realen Lebensbedingungen von Familien, Schulen und Kommunen andererseits.
Diskussion und Fazit Die Zusammenarbeit zwischen den zwei per se sehr unterschiedlich funktionierenden Systemen – Wissenschaft und Praxis – ist eine große Herausforderung. Gleichzeitig aber auch eine der wichtigsten Voraussetzungen für einen gelingenden Transfer wissenschaftlicher Erkenntnisse in die Praxis. Dabei kann weder das Ignorieren wissenschaftlicher Arbeitsprinzipien noch ein Übergehen der Lebensrealität derjenigen Menschen, die gesundheitsfördernde Maßnahmen umsetzen sowie derjenigen, an die sie sich eigentlich richten/die sie nutzen sollen, die Lösung sein. Ein Mittelweg scheint schwierig zu sein. Aus diesem Grunde ist es wichtig, zunächst die Konsequenzen für die Implementierung von Präventionsmaßnahmen aufzudecken, die sich ergeben, wenn sich das Vorgehen stärker oder weniger stark an den klassischen wissenschaftlichen Methoden und Prinzipien bzw. stärker oder weniger stark an den Rahmenbedingungen und Bedarfen der Praxis orientiert. Das gegenseitige Verständnis und eine Zusammenarbeit, die auf Vertrauen beruht ist eine wichtige Voraussetzung. Auf dieser Grundlage ist es möglich, unterschiedliche Zielstellungen für die Zusammenarbeit zu formulieren und Aspekte einer gelingenden Zusammenarbeit abzuleiten, um eine – für alle Beteiligten – erfolgreiche Präventionsmaßnahme zu implementieren.
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
08. März 2023
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Georg Thieme Verlag
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