Sprache · Stimme · Gehör 2018; 42(02): 87
DOI: 10.1055/s-0043-123992
Interview
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Mehrsprachigkeit

Interview mit Prof. Dr. Anne Baker
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Publication Date:
14 June 2018 (online)

Zur Person
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Anne Baker (1948, UK) absolvierte 1975 ihren Ph.D. an der York University und im Jahr 1985 ihre Habilitation an der Universität Tübingen. 1988 wurde sie zum Lehrstuhl für Psycholinguistik, Sprachpathologie und Gebärdenlinguistik der Universität Amsterdam berufen (seit 2013 emeritiert). Von 2002–2009 war sie Direktorin des sprachwissenschaftlichen Forschungsinstituts und bis 2014 Präsidentin der “Sign Language Linguistics Society”. Seit 2016 ist sie Professorin Extraordinary an den Universitäten Stellenbosch und Witswatersrand in Südafrika. Anne Bakers Forschung liegt im Bereich der Psycholinguistik, v. a. in der sprachübergreifenden Untersuchung des Erwerbs und der Beziehung zwischen Sprache und Kognition. Aktuelle Projekte umfassen die Untersuchung spezifischer sprachlicher Beeinträchtigungen bei bilingualen Kindern, den Erwerb von Gebärdensprachen und die Beziehung zwischen Spracherwerb und Exekutivfunktionen. Bis heute wurden 42 Dissertationen unter ihrer Aufsicht abgeschlossen. Sie wurde mit mehreren internationalen Stipendien ausgezeichnet und war ein NIAS Fellow von 1990–1991 und 2005–2006, und ein STIAS Fellow im Jahr 2015.

Viele Menschen denken, zu viele Sprachen überfordern das Gehirn und verlangsamen generell die Entwicklung. Stimmt das?

Nein. Das Gehirn hat viel mehr Platz und Möglichkeiten als wir je benutzen können. Die Entwicklung beider Sprachen kann am Anfang etwas langsamer gehen, aber diese Verzögerung ist kurzfristig und scheint keinen weiteren Einfluss zu haben. Viele Forscher haben die Entwicklung untersucht und stellten fest, dass es keine Probleme gibt.[1]

Sollte man bei Kindern mit Primärbeeinträchtigungen (Autismus-Spektrum-Störungen, Trisomie 21, Hörbeeinträchtigungen) darauf verzichten, mehrere Sprachen zu lernen, um sie nicht zu überfordern?

Kinder mit Beeinträchtigungen können sehr gut mehrere Sprachen lernen. Es ist wichtig, dass sich diese Kinder so gut wie möglich sozial in der zweisprachigen Gemeinschaft einfügen können. In den meisten Situationen ist die Beherrschung beider Sprachen dafür nötig. Es gibt keine eindeutige Evidenz, dass Zweisprachigkeit in solchen Fällen schlecht ist.

Kann man mehrere Laut- und Gebärdensprachen gleichzeitig lernen? Und welche Erkenntnisse können wir aus der Erforschung des bimodal-bilingualen Erwerbs für erfolgreichen Mehrsprachenerwerb ziehen?

Codas sind der beste Beweis, dass das Lernen von zwei Sprachen in unterschiedlichen Modalitäten prima möglich ist. Oft werden Gebärden und Wörter gleichzeitig produziert. Die Trennung der beiden Sprachen ist nicht so wichtig für den Erwerb. Erforschung mit zwei gesprochenen Sprachen scheint das auch zu unterstützen.

Ist erfolgreiche mehrsprachige Entwicklung an ein bestimmtes kognitives Niveau gekoppelt?

Es gibt keinen eindeutigen Zusammenhang zwischen dem kognitiven Niveau und Spracherwerb. Aber Kinder mit einem sehr niedrigen kognitiven Niveau haben im Allgemeinen Probleme im Spracherwerb von einer Sprache. Dasselbe gilt für den Erwerb zweier Sprachen, aber die Auswirkung ist nicht größer. Das ist kein Grund, um die zweite Sprache nicht anzubieten.

Kann man dann wirklich 20 Sprachen sprechen oder nur lesen und schreiben? Und wie ‚tief‘ sind die Kenntnisse in diesen Sprachen? Bzw. sind sie alle gleich dominant?

Man kann sicher von vielen Sprachen Kenntnisse haben, aber die Kenntnisse sind unterschiedlich. Alles hängt von den Umständen ab. Ich persönlich kenne 7 Sprachen, die ich regelmäßig benutze. Englisch, Deutsch und Niederländisch kann ich sprechen, verstehen, lesen und schreiben auf einem guten Niveau. Französisch benutze ich minder oft, und da sind meine Kenntnisse weniger gut. Italienisch kann ich gut sprechen und verstehen, aber weniger gut schreiben. Zwei Gebärdensprachen (aus den Niederlanden und aus Südafrika) kann ich einigermaßen gut benutzen. Englisch ist für mich dominant, weil ich das meiste in dieser Sprache tue.

Wenn Sie den LeserInnen zum Schluss Tipps geben könnten: Wie werde ich schnell mehrsprachig? Wie kann ich meine Mehrsprachigkeit pflegen?

Wohnen im Lande, wo die neue Sprache gesprochen wird, ist das Beste. Auf jeden Fall muss man die Sprache regelmäßig benutzen – sei es in Gesprächen oder durch Radio, Fernsehen oder Lesen.

Das Interview führte PD Dr. Natalia Gagarina