GGP - Fachzeitschrift für Geriatrische und Gerontologische Pflege 2018; 02(01): 6-7
DOI: 10.1055/s-0043-123693
Kolumne
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Noch ein Expertenstandard

Sabine Hindrichs
Further Information

Publication History

Publication Date:
20 February 2018 (online)

Brauchen wir überhaupt Expertenstandards, um in unserem Alltag professionell arbeiten zu können?

Im Oktober wurde in Osnabrück der Fachöffentlichkeit der nunmehr elfte nationale Expertenstandard vorgestellt: „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“. Ein absolut wichtiges Thema, das megaaktuell ist und sich durch alle Bereiche der Pflegelandschaft zieht, keine Frage. Wenn wir aber in uns hineinhören, dann sind sie schon wieder da: die Befürchtungen und Ängste, dass ein weiterer Expertenstandard uns vor Ort nicht wirklich weiterbringt, sondern nur ein weiteres Prüfinstrument wird, um uns in der Praxis zu zeigen, was wir nicht richtig machen.

Die nationalen Expertenstandards erhielten dadurch, dass sie Teil der Qualitätsprüfung des MDK (bzw. Teil der Überprüfung der Umsetzung) wurden, in den letzten Jahren einen bitteren Beigeschmack. Es geht dabei weniger um die fachlichen Inhalte und die pflegerische Auseinandersetzung mit wichtigen Themen in der Pflege, sondern vielmehr darum, ob Einschätzungsverfahren vollständig sind, routiniert angewendet und vor allem entsprechend dokumentiert werden. Weniger der Erfolg bzw. das Ergebnis zählt, vielmehr halten sich Prüfinstanzen an Formalien fest, um Qualität darstellbar und messbar zu machen. Ja es ist richtig, dass gute Pflege kein zufälliges Produkt ist, sondern dass fachliches Können in der täglichen Praxis integriert sein muss, um nachweisbar zu sein! Dass dies aber eine Engführung und Verkürzung ist, sehen wir, wenn wir die Diskussion um die MDK-Noten in der Langzeitpflege betrachten. Wir haben bundesweit einen Notendurchschnitt, von dem unsere Kinder nur träumen können – da kann dann ja etwas nicht richtig sein, so die Meinung von selbsternannten Experten, die sie gern vor allem in Fernsehtalkshows kundtun.

„Wieso kann da etwas nicht richtig sein?“, das frage ich mich immer wieder. Ist dies doch eine Unterstellung, dass Pflege nicht gut sein kann – oder darf das nicht sein? Denn dann würde die ganze „Entrüstungskultur“ in Bezug auf die Pflege in sich zusammenfallen und schwarze Schafe wären das, was sie sind: eine Ausnahme und nicht die Regel. Die Meinung dieser vermeintlichen Experten, dass die Noten in den durch die Expertenstandards abgebildeten Bereichen schlechter seien als in den anderen Bereichen und sie deshalb als Maßstab dienen müssten, wird unreflektiert angeführt. Was dabei außer Acht gelassen wird: Gute Pflege und das Wohlfühlen in einer Pflegeeinrichtung sind weit mehr als die Umsetzung von Expertenstandards.

Verstehen Sie mich bitte nicht falsch! Ich habe nichts gegen Expertenstandards! Ganz im Gegenteil: Sie bieten uns ein solides Grundlagenwissen zu den aktuellen Pflegefachthemen. Eine Profession einigt sich selbstorganisiert bereichsübergreifend auf verbindliche Standards zu aktuellen fachlichen Themen – großartig! Das Problem, das ich in meiner täglichen Praxis immer wieder erlebe, ist jedoch dies: Pflegefachkräfte nehmen vor Ort nicht wahr, wofür die Expertenstandards stehen und wofür sie gedacht sind; vielmehr sehen sie sie als eine weitere zusätzliche Belastung ihrer täglichen Arbeit und als Teil des bürokratischen Wahnsinns.

Ich war bei der Vorstellung des neuen Expertenstandards in Begleitung von einigen Kollegen aus der Praxis. Ich hatte sie motiviert, einmal an einer solchen Konsensuskonferenz teilzunehmen, und wollte ihnen zeigen, dass wir alle an der Entwicklung und bei der Umsetzung in der Praxis aktiv mitwirken können. Grundsätzlich würde ich dies immer wieder machen, denn ich bin der festen Überzeugung, dass wir nur gemeinsam Dinge verändern und verbessern können. Allerdings wurde mir erneut sehr deutlich vor Augen geführt, dass wir in Deutschland eine große Kluft zwischen der akademischen Pflege und dem praktischen Pflegealltag haben. Das Auditorium in Osnabrück, die Vorstellung eines neuen Expertenstandards und die Diskussionen zu den einzelnen Handlungsebenen sind schon ganz schön beeindruckend. Aber ist „beeindruckend“ in der Praxis anwendbar und vor allem unter den aktuellen Rahmenbedingungen umsetzbar?

Am Ende der Veranstaltung sah ich bei meinen Praktikern eher Ratlosigkeit im Gesicht: „Was hat uns das heute gebracht?“, und „Du erwartest doch jetzt um Himmels willen nicht von uns, dass wir das den anderen vor Ort erklären!“ So sieht die Realität in der Pflege in Deutschland aus, zwischen akademischen Ansprüchen, finanziellen Gegebenheiten und der Praxis vor Ort mit immer weiter schrumpfenden personellen Ressourcen und gleichzeitig steigenden Qualitätsansprüchen.

Ich bin seit vielen Jahren in der Fort- und Weiterbildung vor Ort in den Einrichtungen tätig und erlebe, dass diese Kluft zwischen Ansprüchen und Realität immer größer wird. Ich persönlich sehe meine Aufgabe als Brückenbauer zwischen diesen beiden Seiten. Wir brauchen Menschen, die dafür sorgen, dass die Informationen und das neueste Wissen zu wichtigen Pflegefachthemen so aufbereitet werden, dass sie für die Praxis nicht nur verständlich, sondern vor allem umsetzbar sind. Neue wissenschaftliche Erkenntnisse können nur dann in die Praxis Einzug halten, wenn die Praktiker vor Ort deren Nutzen und Wichtigkeit erkennen und verstehen. Fachthemen und Wissen abstrakt dargestellt – mit der Aufforderung an die Praxis: „Dann setzt dies mal um, denn daran werdet Ihr gemessen und bewertet!“ – führt letztendlich zu einer Verweigerung, sich diesem neuen Wissen zu öffnen und es anzunehmen.

Der Entwurf des neuen Expertenstandards „Beziehungsgestaltung in der Pflege von Menschen mit Demenz“ hat gute Ansätze, Dinge in der Praxis anzustoßen und zu verändern. Aber wie der schon etwas sperrige Titel sind auch die Inhalte der verschiedenen Handlungsebenen so spezifisch gehalten bzw. setzen Wissen zu diesem speziellen Thema voraus, dass eine Implementierung in der Praxis ohne weitere praktische Umsetzungshilfestellung und Personen mit entsprechendem praktischen Fachwissen meiner Meinung nach nicht möglich ist.

Die Implementierung von Expertenstandards ist dann doch mehr als der Nachweis einer Verfahrensregelung und der jährlichen Fortbildung aller Mitarbeiter in einer Einrichtung. Es ist mehr als bedauerlich, dass die Expertenstandards nur als Mittel zur Qualitätsprüfung und Nachweis von Qualitätsdefiziten gesehen werden und nicht als wertvolles Grundlagenwissen für die Pflegepraxis.

Der neue Expertenstandard bedarf daher noch so mancher Hilfestellung zur Umsetzung, bis er seine Wirkung in der gesamten Pflegelandschaft entfalten kann. Zu wünschen bleibt, dass sich bei der nun folgenden modellhaften Implementierung genügend Einrichtungen und Fachpersonen beteiligen, um diesen Expertenstandard für die Pflegepraxis umsetzungstauglich zu machen.

Ihre

Sabine Hindrichs
sabine@hindrichs-pflegeberatung.de