Z Sex Forsch 2017; 30(04): 305-308
DOI: 10.1055/s-0043-121968
Editorial
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schwerpunktheft Sexualpädagogik

Maika Böhm
a   Institut für Sexualforschung und Forensische Psychiatrie, Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf
,
Stefan Timmermanns
b   Fachbereich Soziale Arbeit, Frankfurt University of Applied Science
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Publication Date:
04 January 2018 (online)

In der pädagogischen Arbeit mit Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen kommen Themen wie Liebe, Partnerschaft oder Sexualität nahezu alltäglich vor. Nur wenige pädagogische Fachkräfte haben jedoch im Rahmen ihrer Hochschulausbildung Gelegenheit, sich Kompetenzen für ihr professionelles Handeln zu diesen Themen anzueignen, denn sexualpädagogische Fragestellungen spielen bis heute in den akademischen Curricula der verschiedenen pädagogischen Ausbildungsgänge nur eine marginale Rolle. Als eigenständiger Studiengang existiert Sexualpädagogik bislang nur an einer Hochschule in Deutschland, als Masterstudiengang Angewandte Sexualwissenschaft in Merseburg. An der Universität Kiel und der Frankfurt University of Applied Sciences kann Sexualpädagogik als Wahlpflichtfach im Studium der Pädagogik bzw. Sozialen Arbeit belegt werden. Die Qualifizierung als Sexualpädagog_in ist seit Ende der 1980er-Jahre zudem durch berufsbegleitende Fort- und Weiterbildungen möglich, angeboten durch große Verbände wie pro familia e. V. oder das Institut für Sexualpädagogik (isp). Die 1998 gegründete Gesellschaft für Sexualpädagogik (gsp), die sich als Berufsverband sexualpädagogisch Tätiger versteht, bietet seit 2008 eine Zertifizierung an, die mindestens 172 Stunden Aus- und Fortbildung in Sexualpädagogik voraussetzt (Qualitätssiegel Sexualpädagog_in gsp). Qualifizierende Wege in die Sexualpädagogik sind bislang also heterogen und der Grad der Professionalisierung innerhalb des Feldes schwer abzuschätzen; so ist z. B. auch die Berufsbezeichnung als Sexualpädagog_in bisher gesetzlich nicht geschützt.

Dies mag damit zusammenhängen, dass Sexualpädagogik eine relativ junge Disziplin ist: Sexualerziehung war bis weit nach dem 2. Weltkrieg von stark repressiven Tendenzen beeinflusst und Informationen über das Thema Sexualität wurden von Kindern und Jugendlichen eher ferngehalten (vgl. [Sielert 2015]: 14). Erst ab Ende der 1960er-Jahre, als das Thema nach dem fächerübergreifenden Prinzip an Schulen eingeführt wurde und die Bundesländer Richtlinien und Lehrpläne zur Sexualerziehung erließen, kann von einer systematischen und affirmativen Sexualerziehung in der Bundesrepublik Deutschland gesprochen werden (weiterführend vgl. u. a. [Koch 2000]; [Sielert 2015]; [Schmidt et al. 2017]; zur Sitation in der ehemaligen [DDR vgl. u. a. BZgA 2004]). In den vergangenen gut 50 Jahren konnten sich Sexualerziehung und Sexualpädagogik nicht nur in Schulen, sondern in unterschiedlichen pädagogischen Handlungsfeldern wie z. B. der Arbeit im Elementarbereich oder der Jugendhilfe etablieren.

Auch wenn die Sexualpädagogik den Kinderschuhen inzwischen zunehmend entwachsen ist, steht sie aktuell dennoch vor zahlreichen Herausforderungen (vgl. z.B. [Sielert 2013]; [Schmauch 2011]). So waren die sexualpädagogische Disziplin und ihre Vertreter_innen in den vergangenen Jahren zahlreichen (rechts-)populistischen Angriffen ausgesetzt, wenn etwa sogenannte „besorgte Eltern“ eine an Vielfalt und Selbstbestimmung orientierte Sexualpädagogik wegen ihrer Gefährdungspotenziale und Übergriffigkeit verleumdeten (vgl. u.a. [Hark und Villa 2015]; [Henningsen et al. 2016]; [Tuider und Dannecker 2016]). Herausgefordert ist die Sexualpädagogik aber auch auf inhaltlicher Ebene, nämlich mit Blick auf die inzwischen hohe Bedeutung digitaler Medien in den Lebenswelten von Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen. Seien es Sexualaufklärung, Partner_insuche, Flirt oder sexuelle Erregung – für verschiedenste sexual- und beziehungsbiografische Erfahrungen ist das Internet heute ein wichtiger Ort, an dem die sexualpädagogische Disziplin bislang erstaunlich wenig vorkommt. Und nicht zuletzt leidet die Sexualpädagogik noch immer an ihrem eher uneinheitlichen Professionalisierungsprozess (vgl. [Sielert 2013]: 762), der zum einen durch die bereits erwähnten hochschulischen Ausbildungslücken gekennzeichnet ist, sich zum anderen aber auch an einer bislang sehr zaghaften Theorieentwicklung und weitgehend fehlender eigener Empirie festmachen lässt. Der Wunsch, Sexualpädagogik nicht nur als praktische, sondern auch wissenschaftliche Disziplin sichtbarer zu machen, war der Anlass für das vorliegende Schwerpunktheft. Hierzu noch zwei Anmerkungen: Im vollen Bewusstsein der diversifizierten Begriffe innerhalb der Disziplin (vgl. etwa [Kluge 2013]; [Valtl 2013]) haben wir uns im Titel für den Begriff „Sexualpädagogik“ entschieden, um die Verortung als pädagogische Teildisziplin zu betonen und zugleich für einen breit gefassten, disziplinären Oberbegriff zu werben, der sowohl sexualerzieherische, -aufklärerische wie auch -bildende Inhalte vereint. Und: ein einzelnes Heft kann nur schlaglichtartig Einblick in das sexualpädagogische Feld geben – viele aktuelle und wichtige Themen, wie zum Beispiel die Prävention sexualisierter Gewalt und ihr Verhältnis zur Sexualpädagogik oder der Umgang mit sexueller und geschlechtlicher Vielfalt in der Schule, bleiben außen vor. Wir freuen uns dennoch über die Möglichkeit, den Leser_innen der Zeitschrift für Sexualforschung exemplarisch Einblick in sexualpädagogische Empirie und Didaktik sowie in Angebote und Arbeitsweisen sexueller Bildung geben zu können und hoffen, so auch zu einem intensivierten interdisziplinären Austausch zwischen Sexualwissenschaft, -medizin und -pädagogik beitragen zu können.

Der erste, von Konrad Weller und Gustav-Wilhelm Bathke verfasste Beitrag „Familiäre Herkunftsbedingungen und die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen – ein empirischer Überblick“ (S. 309 ff.) diskutiert den elterlichen Einfluss auf Sexualität(-skonzepte) und die Familie als Ort der sexuellen Sozialisation entlang empirischer Daten in historischer Perspektive. Obschon die Familie – durch den Bedeutungszuwachs von z. B. Peers und Medien – als Ort der „Sexualaufklärung“ im Laufe der letzten Jahre weniger zentral geworden ist, bleibt sie dennoch wichtigste Bezugsgröße für die sexuelle Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.

Antje Langer fokussiert in ihrem Beitrag die Umsetzung sexueller Bildungsangebote und die Spannungsfelder, in denen sich Sexualpädagog_innen bewegen. Unter dem Titel „‘Die brauchen was zum Ausprobieren‘ – Körper und Körper-Modelle in der sexualpädagogischen Praxis“ (S. 332 ff.)analysiert sie entlang qualitativer Expert*inneninterviews mit Fachkräften aus der Sexualpädagogik den Einsatz von „körpernahen“ Modellen in sexualpädagogischen Workshops mit Schulklassen. Entlang ihrer Daten diskutiert die Autorin, welche Realitäten, welches Wissen und welche Erfahrungen mittels ihres Einsatzes geschaffen werden.

In dem Beitrag von Nicola Döring stehen „Online-Sexualaufklärung auf YouTube: Bestandsaufnahme und Handlungsempfehlungen für die Sexualpädagogik“ (S. 349 ff.) im Vordergrund. Die Autorin nimmt die Tatsache, dass sich heutige Jugendliche über sexualitätsbezogene Themen oftmals über das Internet informieren, zum Anlass danach zu fragen, wie Online-Sexualaufklärung auf YouTube aus sexualpädagogischer Perspektive einzuschätzen ist und wie diese neuen Kommunikations- und Vernetzungsformen von der sexualpädagogischen Disziplin aufgegriffen und in ihr Angebot integriert werden können.

Die empirischen Beiträge werden durch einen Praxisbeitrag (S. 368 ff.) ergänzt: Christina Witz und Helge Jannink geben exemplarisch Einblick in ihre sexualpädagogische Arbeit mit jungen Geflüchteten und diskutieren, welche Gemeinsamkeiten und Unterschiede sich im Vergleich mit herkömmlicher sexualpädagogischer Gruppenarbeit ausmachen lassen.

Mit diesem Heft endet der 30. Jahrgang der Zeitschrift für Sexualforschung. Wie bereits in Heft 01_2017 von Nicola Döring angekündigt (ebd.: 5), nimmt der Gründungsherausgeber Volkmar Sigusch dieses Jubiläum zum Anlass, an Fragestellungen aus seinem 1988 veröffentlichten, programmatischen Eröffnungsbeitrag „Was heißt kritische Sexualwissenschaft?“ anzuknüpfen. Wir freuen uns, dass er den Jubiläumsjahrgang wie auch dieses Schwerpunktheft mit ausgewählten „Minima sexualia zu 30 Jahren Zeitschrift für Sexualforschung“ abschließt (S. 379 ff).

 
  • Literatur

  • [BZgA] Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung. Richtlinien und Lehrpläne zur Sexualaufklärung. Eine Analyse der Inhalte, Normen, Werte und Methoden zur Sexualaufklärung in den 16 Bundesländern der Bundesrepublik Deutschland. Köln: BZgA; 2004
  • Hark S, Villa P-I. Hrsg. Anti-Genderismus. Sexualität und Geschlecht als Schauplätze aktueller politischer Auseinandersetzungen. Münster: transcript; 2015
  • Henningsen A, Tuider E, Timmermanns S. Hrsg. Sexualpädagogik kontrovers. Weinheim, Basel; Beltz Juventa: 2016
  • Kluge N. Sexuelle Bildung: Erziehungswissenschaftliche Grundlegung. In: Schmidt RB, Sielert U. Hrsg. Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2013: 115-124
  • Koch F. Sexualität, Erziehung und Gesellschaft. Von der geschlechtlichen Unterweisung zur emanzipatorischen Sexualpädagogik. Frankfurt/Main: Peter Lang; 2000
  • Schmauch U. Körperlichkeit und Sexualität in der Sozialen Arbeit. In: Fachbereich Soziale Arbeit und Gesundheit der Fachhochschule Frankfurt am Main. Hrsg. Grenzverletzungen. Institutionelle Mittäterschaft in Einrichtungen der Sozialen Arbeit. Frankfurt/M: Fachhochschulverlag; 2011: 35-50
  • Schmidt RB, Sielert U, Henningsen A. Hrsg. Gelebte Geschichte der Sexualpädagogik. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2017
  • Sielert U. Professionalisierung in der Sexualpädagogik. In: Schmidt RB, Sielert U. Hrsg. Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2013: 727-738
  • Sielert U. Einführung in die Sexualpädagogik. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2015. 2. Aufl..
  • Tuider E, Dannecker M. Das Recht auf Vielfalt. Aufgaben und Herausforderungen sexueller Bildung. Göttingen: Wallstein Verlag; 2016
  • Valtl KH. Sexuelle Bildung: Neues Paradigma einer Sexualpädagogik für alle Lebensalter. In: Schmidt RB, Sielert U. Hrsg. Handbuch Sexualpädagogik und sexuelle Bildung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa; 2013: 125-140