Z Gastroenterol 2017; 55(11): 1242-1244
DOI: 10.1055/s-0043-121297
Mitteilungen der DGVS
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Gastroenterologie: Achtsamkeit und Schutz bedrohter ärztlicher Arten

Eröffnungsansprache des DGVS-Kongresspräsidenten 2017
Weitere Informationen

Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
15. November 2017 (online)

Liebe Ehrengäste, meine sehr verehrten Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen,

Zoom Image
Markus M. Lerch, Universitätsmedizin Greifswald

gemeinsam mit Albrecht Stier und Albin Lütke begrüße ich Sie heute sehr herzlich zur feierlichen Eröffnung der Viszeralmedizin 2017 in Dresden. Für uns alle ist dies eine Premiere, weil im sogenannten Elb-Florenz noch nie eine Jahrestagung der DGVS oder der DGAV stattgefunden hat. Wir hoffen, dass Ihnen die Stadt und ihr Ambiente ebenso wie das Kongresszentrum in der alten Messe Dresden so gut gefallen, dass dies nicht der letzte Kongress in Dresden bleiben wird.

Wir befinden uns hier nicht wirklich in einer Messe, sondern in den Hallen des Erlwein’schen Schlachthofes. Das merkt man den Gebäuden heute kaum noch an; die Sachsen haben diese in ein sehr attraktives Kongresszentrum verwandelt. Die frühere Nutzung hat dennoch einen gewissen Charme, wenn man gemeinsam mit Chirurgen einen Kongress in einem Schlachthof plant.

Die DGVS hat 2014 beschlossen, für jede Jahrestagung ein Partnerland zum Kongress einzuladen. Albrecht Stier und ich haben in einer gemeinsamen Zeit in Greifswald einige Patientenbetten über den kopfsteingepflasterten Hof des alten Uniklinikums von 1859 geschoben und deshalb haben drei Gesichtspunkte unsere Wahl beeinflusst: Das Naheliegendste war die Tatsache, dass die Dresdner großzügig zwei polnische Könige zur Verfügung gestellt und deshalb eine besondere Beziehung zu Polen entwickelt haben (wenn auch heute viele Ärzte in kleinen sächsischen Krankenhäusern aus Tschechien stammen). Zum zweiten haben die Polen mit ihrer Solidarność-Bewegung ab 1980 nicht nur in ihrem Land die Wende erkämpft, sondern dadurch auch die Wende in Deutschland im Jahr 1989 erst ermöglicht. Ohne diese wären Albrecht Stier und ich uns nie in Greifswald begegnet und auch unser heutiger Kongress würde wohl kaum in Dresden stattfinden. Drittens gibt es unter den großen Greifswalder Medizinern (wie Felix Hoppe-Seyler, Gerhard Domagk, Theodor Billroth und anderen) auch einen, der die historischen Deutsch-Polnischen Beziehungen in einzigartiger Weise verkörpert. Es handelt sich um Ludvik Rydigier, nach der Erhebung in den Österreichischen Adelsstand Ludwig Ritter Riediger von Ruediger. Ludvik Rydigier wurde in Graudenz in Westpreussen geboren, studierte in Greifswald Medizin und erhielt dort auch bei Carl Hueter seine chirurgische Ausbildung. Er wurde später Professor für Chirurgie und Klinikdirektor zunächst an der Jagiellonen-Universität in Krakau und dann an der Johann-Kasimir-Universität in Lemberg. Er war nicht nur der Begründer der polnischen Viszeralchirurgie, sondern wurde auch zu einem Pionier seines Faches, als er als weltweit Erster eine Magenresektion bei einem Patienten mit Magenulkus vornahm. Trotz seiner deutschen Wurzeln wurde Rydigier zu einem vehementen Verteidiger der polnischen Sprache und ihrer Nutzung in Wissenschaft und Kunst und zu einem Vorkämpfer für die Wiedererrichtung eines polnischen Nationalstaates. Dies hat ihn nicht nur in Greifswald in Konflikt mit der preußischen Obrigkeit gebracht. Sein Porträt von Leon Wyczółkowski ist eine der eindrucksvollsten Darstellungen medizinischer Pioniere, die ich kenne, und strahlt ein fast übermenschliches ärztliches Selbstbewusstsein aus – und eine ebenso tiefe Verehrung durch die dargestellten Assistenten. Es scheint aus einer Zeit gefallen, als unser Fach noch Helden geschaffen hat statt DRG-Manager und Medizinbetriebswirte. Wir freuen uns heute, aus dem Partnerland Polen den Sekretär der Polnischen Gesellschaft für Gastroenterologie, Frau Prof. Ewa Malecka Panas aus Lodz, und die Präsidentin Frau Prof. Grażyna Rydzewska aus Warschau begrüßen zu dürfen.

Mit mehr als 5700 Mitgliedern ist die DGVS eine der größten medizinischen Fachgesellschaften in Deutschland und die größte und älteste gastroenterologische Fachgesellschaft in Europa. Das war nicht unbedingt vorherzusehen, als Ismar Boas und Carl Anton Ewald unsere Gesellschaft 1913 gegründet haben. Im Jahr 1924 hatten diese Kollegen es erwirkt, dass eine eigene Facharztbezeichnung – der Arzt für Magen-Darmkrankheiten – in Deutschland eingeführt wurde. Ein wirklicher Tiefschlag für unser Fach war der Ärztetag in Hannover im Jahr 1949, bei dem diese Facharztbezeichnung erst einmal wieder abgeschafft wurde.

Die gesamten Anstrengungen der DGVS richteten sich in den nächsten 20 Jahren auf die Wiedereinführung der Spezialisierung, was dann letztlich 1968 auch unter der amerikanisierten Bezeichnung „Gastroenterologie“ gelang. In die Zeit, in der es keinen Facharzt gab, fällt die Abspaltung der Endokrinologen aus der DGVS im Jahr 1953. Dies hatte mein Vorgänger im Amt des Klinikdirektors in Greifswald, Gerhard Katsch, als Präsident der DGVS im Jahr 1952 noch mit Nachdruck – aber letztlich erfolglos – versucht zu verhindern. Immerhin konnte er gegen interne Widerstände den Erhalt der Stoffwechselkrankheiten sowohl im Namen als auch im Spektrum der DGVS sichern, auch wenn sich seit Nepomuk Zöllner kaum noch jemand in unseren Reihen wissenschaftlich mit Gicht beschäftigt hat.

Die Abspaltung der Endoskopiker aus der DGVS hat Meinhard Classen im Jahr 1987 nur mühsam wieder eingefangen. Heute sind wir dankbar dafür, weil wir gelernt haben, dass sich zumindest im DRG-Abrechnungssystem gastroenterologische Kernleistungen fast nur über endoskopische Prozeduren darstellen und differenzieren lassen.

Warum erinnere ich an dieser Stelle an längst vergessene Wechselfälle und historische Unbilden der DGVS? Weil ich glaube, dass wir daraus noch heute etwas lernen können: Wenn sich ein Teil unserer Mitglieder schlecht behandelt und nicht ausreichend berücksichtigt sieht, dann fühlen sie sich der DGVS nicht mehr verbunden und machen ihren eigenen Laden auf, in dem sie dann ihre Interessen besser vertreten glauben. Als DGVS müssen wir auf alle unsere Mitglieder Rücksicht nehmen, ihre Anliegen ernst nehmen und fördern, und einen Interessenausgleich zwischen den verschiedenen Gruppen finden.

Die Endokrinologen haben heute 1700 Mitglieder, so viele wie wir vor 25 Jahren, besetzen kaum noch Lehrstühle, weil sie in der stationären Versorgung der Krankenhäuser ihre wirtschaftliche Grundlage verloren haben (und keineswegs aus Gründen fehlender wissenschaftlicher Exzellenz) und machen sich größte Sorgen um ihren Nachwuchs. Das müsste nicht so sein, wenn man bedenkt, dass in Griechenland der Facharzt für Endokrinologie der wirtschaftlich und wissenschaftlich attraktivste Bereich der Inneren Medizin ist. Wenn sich an meiner Klinik Kollegen aus Griechenland bewerben, wollen diese fast alle Endokrinologen werden.

Was können wir von den Endokrinologen noch lernen? Sie haben wiederum auf einen Teil ihrer Mitglieder nicht genug Rücksicht genommen, nämlich die Diabetologen, die daraufhin eine eigene, inzwischen viel größere Fachgesellschaft, gegründet haben, die vielleicht nicht so wissenschaftlich ambitioniert, aber mit viel größerem berufspolitischem Erfolg ihre Interessen vertritt.

Was die Aussichten nicht verbessert hat: Die Niedergelassenen sind gegen die Krankenhaus-Endokrinologen in Opposition und in die Innere Immigration gegangen. Weil dadurch für die Klinik-Endokrinologen die ambulante Patientenbehandlung unmöglich oder unwirtschaftlich geworden ist, werden immer weniger Endokrinologen ausgebildet und die niedergelassenen Kollegen finden keine Nachfolger für ihre Praxen mehr. Es hat in diesem Fach keinen Interessenausgleich zwischen den Bereichen oder Sektoren gegeben. Die verschiedenen Gruppen haben sich nicht respektiert, einander nicht zugehört und nicht auf die wechselseitigen Interessen geachtet. Das Ergebnis sind heute Geschäftsmodelle wie das Endokrinologikum (inzwischen heißt es an vielen Orten anders), das sein Geld allein mit prozessoptimierten Laborleistungen verdient und in dem das ärztliche Handeln am Patienten praktisch keine wirtschaftliche Rolle mehr spielt. Das ist keine sehr attraktive Zukunftsaussicht für den Nachwuchs.

Vergleichbare Risiken bestanden für die Gastroenterologie auch. Auch wir mussten unterschiedliche Interessen zwischen verschiedenen Bereichen ausgleichen. Unser Spektrum ist noch viel größer als das der Endokrinologen. Wir haben Spezialisten für gastroenterologische Onkologie und medikamentöse Tumortherapie, ein Bereich, den Wolff Schmiegel und andere zum Glück fest in unserem Fach und in unserer Weiterbildung verankert haben. Davon gibt es inzwischen zahlreiche in fast allen Kliniken – aber nur ca. 80 in der Niederlassung. Die Mehrzahl der niedergelassenen Gastroenterologen hat kein Interesse an der medikamentösen Tumortherapie und die wirtschaftliche Grundlage von mehr als 1000 Praxen hängt zu 60 bis 80 % – je nachdem wie das Zentralinstitut misst – von der Koloskopie ab. Das ist nicht ohne Risiko für eine zukunftsfeste Tätigkeit in der Praxis.

Dann gehören zu uns die Hepatologen. Diese haben das Glück, dass gerade jetzt viel Unterstützung aus der Pharmaindustrie zu den Behandlern mit dieser Expertise fließt, und sie daraus zwar Stiftungen zum Vorteil der eigenen Forschung zimmern konnten, aber bisher der Versuchung widerstanden haben, einen eigenen Laden aufzumachen, sprich die Hepatologie von der Gastroenterologie zu trennen. Das ist im internationalen Vergleich ziemlich einmalig, weil in Skandinavien, Großbritannien und einigen Mittelmeerländern zum Beispiel schon getrennte Facharztschienen und Fachabteilungen für Gastroenterologie und Hepatologie die Regel sind.

Ähnlich sieht es bei den chronisch-entzündlichen Darmerkrankungen aus, ein Bereich, in den auch große Unterstützung aus der Industrie geflossen ist, der sich aber verkniffen hat, einen eigenen CED-Gastroenterologen über eine zertifizierte Spezialisierung einzuführen. Dies hat lange Diskussionen erfordert, aber den Zusammenhalt unseres Faches sehr gestärkt.

Auch die Endoskopiker, lange von der Fachgesellschaft so wenig respektiert, dass sie nur mit Mühe von Meinhard Classen wieder zurück ins gemeinsame Boot der DGVS geholt werden konnten, haben verhindert, dass ein Superendoskopiker formal als Zusatzweiterbildung eingeführt wird, obwohl natürlich jeder von uns weiß, dass es diese Kollegen gibt und wir alle sie kennen.

Und dann gibt es noch die ärmeren Geschwister: Z.B. die, die sich für die Bauchspeicheldrüse interessieren, übrigens ein Gebiet, das nur in Deutschland von Gastroenterologen und Chirurgen gemeinsam bearbeitet wird, sehr zum Nutzen der Patienten. Oder unsere Neurogastroenterologen, denen immer vorgehalten wird, was sie treiben, sei für die Praxis viel zu teuer und nicht gegenfinanziert und im Krankenaus fehl am Platz. Die Unterstützung aus der Industrie ist in letzterem Bereich immer wieder sehr plötzlich wegen unerwarteter Nebenwirkungen versiegt, bei der Pankreatitis hat es sie kaum je gegeben.

Wir können uns aber nicht davon abhängig machen, welche Bereiche der Gastroenterologie momentan wirtschaftlich interessant und im Fokus von Pharmaindustrie oder Medizinprodukteherstellern stehen. Vor allem um unserer Patienten willen müssen wir weiterhin die ganze Breite unseres Faches erhalten und auch vergrößern. Ich erwähne nur die wachsende Rolle der Infektiologie in der Gastroenterologie oder das Mikrobiom und seinen Transfer in neue Wirte. Letzteres hat viel Potenzial, es ist aber überhaupt noch nicht abzusehen, ob es ähnlich wie NOTES schnell wieder ein Nischendasein fristen wird.

Wie sich unser Fach weiterentwickelt ist nicht vorherzusagen. Machen wir uns nichts vor, nur einen Teil dieser Entwicklung treiben wir selbst voran. Anderes wird von der forschenden Industrie, dem Gesetzgeber, den Organen der Selbstverwaltung, oder immer neuen Regulierungsorganen wie IQWIG und IQTIG bestimmt werden. Mit denen können wir uns aber nur auseinandersetzen in einer in sich geschlossenen, hochprofessionellen Fachgesellschaft, die auch eine kritische Masse gegen andere Mitbewerber mit sehr ähnlichen gesundheitspolitischen Interessen auf die Waage bringt. Das erfordert aber, dass wir aufeinander aufpassen und keiner auf der Strecke bleibt, der sich dann genötigt sieht, wiederum einen eigenen Laden aufzumachen. Die DGVS ist auch ein Verein zum Schutz von Minderheiten und gefährdeten Arten unter ihrem Dach.

Etwa ein Drittel unserer Mitglieder wurde zwar in einer Klinik ausgebildet, arbeitet aber heute in einer niedergelassenen Einzel- oder Gemeinschaftspraxis. Das gibt es sonst in praktisch keinem anderen Land, wo Fachärzte nahezu ausschließlich im Krankenhaus arbeiten – und natürlich auch ambulant. Diese in Deutschland 1954 eingeführte Sektorengrenze ist neben der kommunalpolitisch begründeten großen Zahl von unterkritisch kleinen Krankenhäusern das größte Hindernis für die international schon viel weiter fortgeschrittene Spezialisierung in der Gastroenterologie. Bei uns kann nur überleben, wer in der Praxis oder kleinen Klinik so tut, als wenn er alles könnte, alles dürfe und alles anbiete. Schaut man in andere Länder, wird sich das nicht aufrechterhalten lassen. Wir müssen Spezialisierung in unseren Reihen nicht nur zulassen, sondern fördern – aber ohne dabei den Zusammenhalt in unserem Fach und in unserer Fachgesellschaft aufzugeben. Wir sind gefordert, sehr aktiv Modelle für die Gastroenterologie zu entwickeln, die die hinderliche Sektorengrenze überwinden helfen und es erlauben, die ambulant arbeitenden Kollegen in die Kliniken zu integrieren und die Kliniker in die ambulante Tätigkeit. Wenn wir das nicht machen, dann machen es irgendwann andere für uns und das geht womöglich zu Lasten einer der beiden Parteien. Das Ganze gelingt aber nur, wenn sich unsere niedergelassenen Kollegen in der DGVS gehört, verstanden und auch aufgehoben fühlen. Das war nicht immer so. Lasst uns in Zukunft auch noch besser auf unsere niedergelassenen Kollegen und ihre Interessen achten.

Liebe Kolleginnen und Kollegen, ich scheide mit diesem Kongress aus dem Vorstand der DGVS aus, dem ich seit 7 Jahren als Sekretär oder Präsident angehört und an dessen Sitzungen ich schon 5 Jahre zuvor als stellvertretender Sekretär teilgenommen habe. Es wird höchste Zeit, dass jetzt die nächste Generation von Gastroenterologen die Geschicke unserer Fachgesellschaft gestaltet und bestimmt. Sonst bleiben wir nicht zukunftsfähig. Unseren noch jüngeren Mitgliedern haben wir bereits mit der JUGA ein neues Zuhause in der DGVS gegeben und das Tutorenprogramm, um Studierende für die Viszeralmedizin zu begeistern, war noch nie so nachgefragt und umfangreich wie hier in Dresden.

Wenn ich Ihnen und dem nächsten Vorstand etwas ans Herz legen darf, das ich in den 13 Jahren im Ehrenamt für die DGVS gelernt habe, dann wäre es diese Bitte: Lassen Sie uns in der DGVS auch in der Zukunft gut aufeinander aufpassen. Vielleicht sogar noch ein bisschen besser als in der Vergangenheit.

Ich wünsche Ihnen allen einen interessanten, abwechslungsreichen und wissenschaftlich reizvollen Kongress in Dresden.

Ihr

Prof. Dr. Markus M. Lerch
Kongresspräsident DGVS 2017