Fortschr Neurol Psychiatr 2018; 86(01): 14
DOI: 10.1055/s-0043-119480
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Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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Publication Date:
17 January 2018 (online)

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Prof. Dr. med. A. Eckhart-Henn ist ärztliche Direktorin der Klinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie in Stuttgart-Bad Cannstadt. Prof. Dr. med. Carsten Spitzer ist Chefarzt der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie in Rosdorf. Sie legen nach 2004 nun nicht einfach eine Neuauflage der „Dissoziativen Bewusstseinsstörungen, sondern ein komplett überarbeitetes und grundlegend neukonzipiertes Buch vor. Immerhin über 40 namhafte Co-Autoren aus dem Gebiet veränderter Bewusstseinszustände haben sich noch beteiligt, die meisten aus dem deutschsprachigen Raum.

Als Zielgruppe des Buches kommen vor allem alle psychotherapeutisch bzw. psychodynamisch tätigen Ärzte oder Psychologen in Frage, vor allem diejenigen, die sich mit tiefenpsychologischer Therapie und Psychotraumatologie beschäftigen bzw. gut damit vertraut sind. Das Buch ist vorwiegend für Teams bzw. in Kliniken tätige Therapeuten, ggf. spezialisierter Abteilungen, wichtig, sicher aber auch für die Kolleginnen und Kollegen im ambulanten Bereich relevant. Onlinematerialien werden nicht zur Verfügung gestellt, dies wäre bei dem Thema aber auch nicht dringend erforderlich. Illustriert wird der Band durch 26 Abbildungen und 28 Tabellen. Die technische Qualität entspricht dem hohen Standard des Verlags mit guter Papierqualität und einfarbiger Druckweise. Das Bewusstsein ist ja von jeher ein Faszinosum und wurde ja zunächst in der Freudʼschen Ära mit komplexen, kaum empirisch überprüfbaren Konstrukten versucht zu erklären. Insbesondere seine Störungen dissoziativer Art werden seit über 100 Jahren in den Kontext psychischer Erkrankungen gebracht und entsprechend versucht zu behandeln. Seither wurden immer wieder neue Erklärungsversuche und Theorien zu diesem Thema hervorgebracht, bis hin zu moderner empirischer wissenschaftlicher Methodik und Grundlagenforschung wie sie von Francis Crick und Christof Koch repräsentiert wird.

In der Grundgliederung des Buchs beginnen die Autoren mit Theorie und Grundlagen, dies umfasst 14 Kapitel, beginnend mit der faszinierenden Ideengeschichte des Themas und der verschiedenen Kontexte, dann folgen psychodynamische Modelle, entwicklungspsychologische Perspektiven, die Bindungstheorie bis hin zur Neurobiologie (diese wird aber nur grob umrissen), psychoanalytische und kognitionspsychologische Perspektiven. Es fällt auf, dass die Autoren sich sehr stark an den Diagnoseklassifikationssystemen orientieren, vorwiegend am DSM-5. Der neurobiologische Teil beginnt rasch mit der Störung. Hier wäre es schön gewesen, aktuelle und zum Teil extrem faszinierende Grundlagenergebnisse oder grundlegende Überlegungen zum Thema Bewusstsein (z. B. Koch und Crick) zu erwähnen. Das Kapitel zur Abgrenzung epileptischer Anfälle ist etwas kurz geraten, hier wäre gerade die neurologische Perspektive interessant.

Der Hauptteil zur Klinik umfasst weitere 16 Kapitel: von der Klassifikation, Testverfahren hinüber zu den verschiedenen Erscheinungsformen, atypischen Präsentationen und Dissoziation bei verschiedenen psychischen Erkrankungen, vor allem natürlich Posttraumatische Belastungsstörung, Borderlinestörungen und Psychosen. Im therapeutischen Teil werden die Akutbehandlung, die Verhaltenstherapie, der psychodynamische Ansatz, Körperpsychotherapie, EDR und Pharmakotherapie besprochen.

Als didaktisch auflockernde Elemente kommen neben dem Einsatz von einigen Abbildungen und Tabellen des Weiteren Definitionen, Gliederungspunkte und Fallbeispiele zum Einsatz. Textboxen werden nicht durchgängig eingesetzt. Schön wären auch prägnante Zusammenfassungen oder ein abschließendes, einheitliches Fazit am Ende der Kapitel.

Insgesamt sind Eckhart-Henn und Spitzer aber eine deutlich verbesserte Ausgabe zu einem günstigen Preis gelungen. Insbesondere die hochkarätigen, zahlreichen Co-Autoren werten das Buch enorm auf. Das Buch hat das Potenzial, für die Psychotherapie zum deutschsprachigen Standardwerk zu diesem wichtigen Thema zu werden. Alternativen zum vorliegenden Werk gibt es im deutschsprachigen Raum schlicht und ergreifend nicht. Einzig das schon etwas ältere Buch „Veränderte Bewusstseinszustände: Grundlagen – Techniken – Phänomenologie“ von D. Vaitl von 2012 aus dem gleichen Verlag ist zu erwähnen; dieses Buch hat seinen Ausgangspunkt jedoch mehr auf den neurologischen Grundlagen.

Für das Gros der Patienten, deren Bewusstseinsstörung psychodynamisch erklärt werden kann oder die Psychotherapie zur Lösung ihrer Probleme suchen, bietet das Buch von Eckhardt-Henn und Spitzer sicher die beste verfügbare Fachliteratur.

Prof. Dr. Markus Weih, Nürnberg