Der Klinikarzt 2017; 46(09): 415-416
DOI: 10.1055/s-0043-115947
Editorial
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Gesundheit – unser höchstes Gut?

Ansichten eines Palliativmediziners
Winfried Hardinghaus
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Publication Date:
20 September 2017 (online)

In der römischen Philosophie wurde das höchste Gut als die Harmonie der Seele mit sich selbst angesehen! Das summum bonum meint dasjenige Gut, welchem ein unbedingter höchster Wert beigelegt ist. Aristoteles und später Kant hielten das höchste Gut für das Prinzip, nach dem die Normen des menschlichen Handelns zu rechtfertigen sind. Im christlichen Kontext ist der Terminus „höchstes Gut“ ein Synonym für Gott bzw. die Gemeinschaft mit ihm.

Neben einem „Alles Gute“ ist der Begriff „Gesundheit“ wohl eines der meist ausgesprochenen Wünsche an sein Gegenüber. Niemals zuvor hatte Gesundheit einen höheren Stellenwert als heute. In einer Umfrage der „Bild am Sonntag“ kam heraus, dass 85 % der Befragten für die Gesundheit nichts zu teuer ist und 94 % meinten, die Gesundheit sei wichtiger als alles andere. Die finanziellen Ausgaben dafür steigen enorm, volkswirtschaftlich ist der Gesundheitsbereich eine Wachstumsbranche.

Privilegierte Schichten leben in Deutschland statistisch gesünder und haben auch eine längere Lebenserwartung als Menschen, die über geringere Bildung, Einkommen und Berufsstatus verfügen. Die Gründe hierfür liegen u.a. wohl in unterschiedlichen Verhaltensweisen, z.B. Ernährung und Rauchen.

Doch was heißt Gesundheit? Die Definition der Weltgesundheitsorganisation lautet immer noch: „Gesundheit ist ein Zustand völligen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlbefindens und nicht bloß die Abwesenheit von Krankheit und Gebrechen“. Sicher eine utopische Definition. Außerdem, das kenne ich auch aus der Palliativmedizin sehr wohl, können sich Kranke, sogar Schwerkranke, subjektiv durchaus „wohl“ befinden.

Gesundheit wird in unserer modernen Zivilisation schon lange nicht mehr als eine heile Seele definiert, sondern überwiegend als biologischer Prozess. Daraus erwächst der Fehlschluss, dass Gesundheit stets machbar und sogar beliebig steigerbar ist, bis hin zu einem geforderten Recht auf Gesundheit. Dagegen sind wir bereits zu einer Gesellschaft chronisch Kranker geworden. Früher war das lange nicht so, denn entweder man wurde nach einer schweren Krankheit gesund oder man starb. Heute bleibt man aufgrund der modernen Medizin nach einer erfolgreichen Akuttherapie häufig chronisch krank, und das bei durchaus hoher Lebenserwartung.

Verzweifelte Kranke unterwerfen sich häufig dubiosen Praktiken. Es findet sich eine unheilige wie unheilvolle Allianz von Gesundheitsaposteln, die Gesundheit zu einer Ersatzreligion machen. Jedenfalls haben wir sonntags heute mehr Fitnessstudiobesucher als Gottesdienstbesucher in der katholischen Kirche. Der Arzt und Theologe Manfred Lütz hat in seinem Buch „Lebenslust“ treffend dazu formuliert: „Mein Eindruck ist, dass die Menschen heute in unseren westlichen Gesellschaften vielfach nicht mehr an den lieben Gott glauben, sondern an die Gesundheit. Und alles, was man früher für den lieben Gott tat, fasten, Wallfahrten usw., das tut man heute für die Gesundheit. Es gibt Menschen, die leben überhaupt nicht mehr richtig, die leben nur noch vorbeugend und sterben dann gesund. Aber auch wer gesund stirbt, ist definitiv tot.“

Das ist natürlich eine provokante Überspitzung des Kollegen. Und selbstverständlich bin ich auch dafür, dass wir alles, was vernünftig ist, für unsere Gesundheit einsetzen, ebenso vorbeugend natürlich. Es ist indes aber nicht von der Hand zu weisen, dass wir es manchmal übertreiben, z.B. mit der apparativen Diagnostik. Nach einer Studie des Kölner Kollegen Gross findet man umso mehr Krankheiten, je mehr Untersuchungen erfolgen. Das heißt umgekehrt, gesund ist ein Mensch, der nicht ausreichend untersucht wurde!

Eine Gesellschaft, in der die Gesundheit das höchste Gut ist, wird sich über kurz oder lang mit der Krankheit und den Kranken nicht abfinden. Was sollen aber Menschen tun, die einfach krank sind und keine Aussicht haben, gesund zu werden? Was ist mit Schwerbehinderten, was mit Demenzkranken, was mit den Alten? Brauchen wir nach der Baby- bald eine Altenklappe?

Wir nehmen uns Lebenszeit auf der Wellness-Liege und liegen nachher auf dem Sterbebett und es passiert dann unvorbereitet das, was wir immer vermeiden wollten: einsam, ohne Hoffnung und ohne Perspektive zu sterben.

Hat hier Schiller nicht doch recht, wenn er sagt „Das Leben ist der Güter höchstes nicht.“ (Schiller). Also; Jeden von uns kann und wird es durch Unfall oder Krankheit treffen. Natürlich sollten wir keine Schmerzen haben oder körperlich wie seelisch möglichst nicht leiden. Sollen wir gegen das Gesundheitssystem aufstehen und jeden medizinischen Fortschritt bekämpfen? – Nein bestimmt nicht. Aber das Wichtigste im Leben, um das hohe Gut der Gesundheit zu erlangen, scheint mir persönlich nicht das kurzfristige Glück, sondern Sinn in seinem Leben zu finden und sich vielleicht sogar eine spirituelle Perspektive auf ein Leben nach dem Tod zu schaffen.

Gesundheit ist also ein hohes Gut, aber vielleicht nicht das höchste, es sei denn, man schließt sich einer abschließenden Definition von Gesundheit an als Zustand, das Leben zu jeder Zeit annehmen zu können. Und somit wird Gesundheit doch wieder zum höchsten Gut.