Fortschr Neurol Psychiatr 2017; 85(07): 379
DOI: 10.1055/s-0043-110154
Fokussiert
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Psychiatrische Adoleszentenkohorte: selbstberichtete Impulsivität und suizidales Verhalten

Bernd Lenz
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
02. August 2017 (online)

Suizide stellen in der Altersgruppe von 15- bis 29-Jährigen weltweit die zweithäufigste Todesursache dar. Impulsivität wird immer wieder als potenzieller Prädiktor diskutiert. Die Studien zur Bedeutung von Impulsivität für suizidales Verhalten bei Jugendlichen zeigen jedoch inkonsistente Ergebnisse. Ursachen dafür liegen in den verschiedenen Dimensionen und Erfassungsmethoden von Impulsivität (z. B. selbstberichtet, strukturierte Interviews, Computertests) und suizidalen Handlungen (z. B. Selbstverletzungen, Suizidversuche, vollendete Suizide).

Lauri Alasaarela und Kollegen haben in dieser finnischen Studie getrennt für adoleszente Jungen und Mädchen die Assoziation von selbstberichteter Impulsivität und Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS) mit nichtsuizidalen Selbstverletzungen, Suizidgedanken, Suizidversuchen und Mortalität durch Suizide untersucht. Die Studienkohorte entstammt dem STUDY-70 Projekt mit 208 Jungen und 300 Mädchen (mittleres Alter 15 Jahre, Altersspanne 13 bis 17 Jahre). Die Teilnehmer befanden sich in den Jahren 2001 bis 2006 in stationärer psychiatrischer Behandlung. Impulsivität, ADHS, andere psychiatrische Erkrankungen sowie früheres nichtsuizidales selbstverletzendes Verhalten, Suizidgedanken und Suizidversuche wurden mit einem semistrukturierten klinischen Interview erfasst (Schedule for Affective Disorder and Schizophrenia für School-Age Children Present and Lifetime Interview). Mortalitätsdaten (Suizid vs. andere Todesursachen) entstammen dem nationalen finnischen Todesregister (bis Mai 2016).

Im Geschlechtsvergleich litten Mädchen signifikant häufiger unter nichtsuizidalen selbstverletzenden Handlungen (39 % vs. 13 %), Suizidgedanken (50 % vs. 26 %), Suizidversuchen (26 % vs. 13 %), Angsterkrankungen (29 % vs. 14 %) und affektiven Störungen (58 % vs. 37 %); Jungen zeigten häufiger Impulsivität (23 % vs. 10 %), ADHS (11 % vs. 2 %) und Verhaltensauffälligkeiten (59 % vs. 34 %).

Bei den Mädchen war Impulsivität signifikant mit einem erhöhten Risiko für Suizidgedanken (OR = 2,8) und Suizidversuche (OR = 4,3) assoziiert. Es zeigten sich keine derartigen signifikanten Zusammenhänge in der Gruppe der Jungen. ADHS war nicht signifikant mit suizidalem Verhalten assoziiert. Allerdings hingen psychiatrische Erkrankungen wie affektive Störungen, Psychosen und Verhaltensauffälligkeiten als Kovariaten geschlechtsspezifisch mit suizidalem Verhalten zusammen.

Während der Beobachtungsphase starben 4 % der Studienteilnehmer mit signifikant mehr Jungen (n = 15) als Mädchen (n = 5). Eine signifikante Assoziation von Impulsivität und Mortalität ergab sich nur bei den Jungen. 10 % der als impulsiv klassifizierten Jungen starben während der Nachbeobachtungszeit. Die Todesursache war bei jedem dieser Jungen ein Suizid (n = 5 von 48). Von den als nichtimpulsiv klassifizierten Jungen starben während der Beobachtungsphase 6 % (n = 10 aus 160), darunter 40 % durch Suizid (n = 4).

Kommentar

Die Autoren zeigen in dieser Studie ein erhöhtes Risiko für nichtletales suizidales Verhalten bei impulsiven adoleszenten Mädchen. Impulsive adoleszente Jungen starben dagegen häufiger durch Suizid. Die Autoren erklären die Wechselwirkung von Geschlecht und suizidalem Verhalten damit, dass Jungen dazu neigen tödlichere Suizidmethoden als Mädchen anzuwenden. Aufgrund der besonderen klinischen Relevanz muss hier hervorgehoben werden, dass alle der 10 beobachteten Todesfälle in der Gruppe der impulsiven Jungen Folge von Suiziden waren.

Limitationen der Studie liegen in der einfachen Erfassung von Impulsivität mit lediglich einem Item eines semistrukturierten Interviews. Die Fallzahlen sind für Subgruppenanalysen teils klein. Es wurden viele statistische Tests ohne Korrektur für multiples Testen durchgeführt. Eine Replikation von Teilergebnissen bleibt abzuwarten. Stärken des Projektes liegen in der Anwendung eines für die Altersgruppe gut validierten Interviews sowie in den Mortalitätsdaten aus dem finnischen Nationalregister.

Trotz dieser interessanten geschlechtsspezifischen Ergebnisse bleiben viele Fragen zum Zusammenhang von Impulsivität und suizidalen Handlungen offen. Die Studie kann beispielsweise nicht beantworten, ob Impulsivität alleine oder in Interaktion mit Umweltfaktoren direkt suizidales Verhalten nach sich zieht oder ob andere zugrundeliegende Faktoren Impulsivität und suizidales Verhalten gleichermaßen beeinflussen.

Die Studienergebnisse zeigen, dass das einfache Erfragen von Impulsivität bei Jugendlichen die Risikoeinschätzung von suizidalem Verhalten und Suiziden im klinischen Alltag unterstützen könnte. Außerdem fordern sie dazu auf, gezielt Suizidpräventionsangebote für Jugendliche in stationärer psychiatrischer Behandlung zu entwickeln und zu etablieren.


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