Aktuelle Dermatologie 2017; 43(06): 241-250
DOI: 10.1055/s-0043-108749
Tagungsbericht
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Dresdner Dermatologische Demonstration 2017 – 19. März 2017[*]

Dresden Dermatology Demonstration 2017 – March 19, 2017
G. Hansel
Klinik für Dermatologie und Allergologie am Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt, Städtisches Klinikum, Akademisches Lehrkrankenhaus der TU Dresden
,
A. Koch
Klinik für Dermatologie und Allergologie am Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt, Städtisches Klinikum, Akademisches Lehrkrankenhaus der TU Dresden
,
U. Wollina
Klinik für Dermatologie und Allergologie am Krankenhaus Dresden-Friedrichstadt, Städtisches Klinikum, Akademisches Lehrkrankenhaus der TU Dresden
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Publication History

Publication Date:
09 June 2017 (online)

Toxische epidermale Nekrolyse nach Allopurinol

A. Bitel, P. Thomaschewski

Anamnese Die stationäre Aufnahme der 71-jährigen Patientin erfolgte im Juni 2016 notfallmäßig bei erneuter Blasenbildung und positivem Nikolski-Zeichen im Bereich des Rückens, nachdem sich die Patientin von März bis Mai im Schwerbrandverletztenzentrum des St. Georg Klinikums Leipzig wegen einer ausgeprägten toxischen epidermalen Nekrolyse (TEN; > 30 % Körperoberfläche) mit mukokutaner Beteiligung nach Allopurinol-Einnahme befunden hatte ([Abb. 1]). Eine Histologie bestätigte die Diagnose TEN. Nach kompliziertem, langwierigem, intensivmedizinischem Verlauf mit Sepsis, Dialyse und mehrfachen Hauttransplantationen erfolgte die Verlegung in die Rehaklinik.

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Abb. 1 März 2016: Schwere orale Beteiligung.

Als Begleiterkrankungen waren ein Diabetes mellitus Typ 2 (OAD), Glaukom, arterielle Hypertonie, progredientes Hornhautulkus, Hyperlipoproteinämie und Hypothyreose bekannt.

Hautbefund Klinisch zeigten sich bei der aktuellen Aufnahme am gesamten Integument großflächige, vulnerable, rosafarbene Erytheme neben stellenweise eingeheilten Meshgraft-Transplantaten. Zudem fanden sich am oberen Rücken und im Bereich der oberen Extremität rechts bullöse Hautveränderungen, bei denen sich die Haut tangential abschieben ließ ([Abb. 2]). Das linke Auge wies eine starke Rötung mit konjunktivaler Injektion auf.

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Abb. 2 Mai 2016 Rezidiv: positives Nikolski-Zeichen am Rücken.

Histologie Eine chronisch fortdauernde granulierende Entzündungsreaktion ist mit einem Residualzustand nach TEN mit instabil bedeckender Epidermis und sich zur Tiefe anschließender nekrobiotisch-interstitieller granulomatöser Entzündung vereinbar.

Laborbefunde: Pathologisch waren: Erythrozyten 3,67 Gpt/l (4,2 – 5,4); Hämoglobin 6,20 mmol/l (7,4 – 10,7), Kreatinin 106 µmol/l (< 80), Harnsäure 709 µmol/l (140 – 340), CRP 16,9 mg/l (< 5); Blutsenkung 1 h 96 (< 30), Bence-Jones-Kappa 57,7 mg/l (3,3 – 20,0); Quotient-BJ-kappa/lambda 2,52 (0,26 – 1,65); antinukleäre Antikörper positiv, Titer 1:320. Mycoplasma-AK-IgG: 26,5 (0 – 9,0); Yersinien-IgG-AK 173,3 U/ml (0 – 20); Yersinien-IgA-AK: 92,2 U/ml (0 – 20).
Knochenmarkpunktion: Normozelluläres Knochenmark mit reaktiven Markveränderungen. Keine Hinweise für eine Plasmazellneoplasie.
Zytogenetische Beurteilung: Unauffälliger weiblicher Karyotyp.
Molekular-zytogenetische Beurteilung: Unauffällig.
Abstrich Auge: Herpes simplex Typ 1-DNA positiv, Viruslast 306 Kopien/ml.
Urinstatus pathologisch: Glucose 100 mg/dl (< 10), Nitrit + +, Bakterien +.

Bildgebende Diagnostik Röntgen des Thorax: unauffällig.

Therapie und Verlauf Wir beendeten vorsorglich als mögliche Auslöser für die klinische TEN die Medikation mit Pregabalin und Hydrochlorothiazid.

Initial führten wir einen Keimabstrich des Blasensekrets sowie eine Herpes-PCR vom Auge und den Blasen am Rücken durch. Die Herpes-PCR vom Auge ergab einen positiven Nachweis für Herpes simplex Typ 1.

Daraufhin wurde intern Aciclovir 500 mg – 250 mg – 500 mg i. v. über insgesamt 14 Tage gegeben. Zusätzlich erfolgte eine hochdosierte Prednisolontherapie mit initial 1000 mg tgl. i. v., welche nach schrittweiser Reduktion auf 100 mg/Tag oral gegeben werden konnte. Bis zur Entlassung konnte die Prednisolondosis bis auf 40 mg/Tag reduziert werden.

Aufgrund des schwerwiegenden Augenbefundes mit progredientem Hornhautulkus erfolgte eine engmaschige ophthalmologische Kontrolle mit temporärer Linseneinlage. Augenärztlicherseits wurde bei Meibomitis zudem eine orale Therapie mit Doxycyclin 100 mg täglich p. o. über 4 – 6 Wochen empfohlen, welche wir bei erhöhten Yersinien-AK im Serum ab dem 30. 05. 2016 mit 200 mg/Tag begannen und im Verlauf auf 100 mg/Tag reduzierten. Eine Knochenmarkpunktion und die Immunserologie bzgl. blasenbildender Dermatosen waren unauffällig.

Wir haben die Meidung von Allopurinol, Pregabalin und Hydrochlorothiazid empfohlen. Für letztere Präparate ist ggf. eine allergologische Testung (z. B. mittels Basophilenaktivierungstest) zu erwägen.

Aufgrund zwischenzeitlich entgleister hyperglykämischer Blutzuckerwerte erfolgten die Einstellung auf Insulin und eine diabetologische Betreuung. Die Blasen der betroffenen Körperregionen wurden steril eröffnet und initial mit Betamethasonvalerat + Fusidinsäure (Fucicort-Creme) 2 × täglich versorgt. Erosive Areale deckten wir mit Grassolind-Gaze ab. Im Verlauf kam Prednicarbat (Dermatop)-Creme in Kombination mit Dermatop-Basiscreme zur Anwendung, worunter eine Abheilung bei blassem Resterythem erreicht wurde. Die blasigen Areale epithelisierten.

Kommentar Die TEN ist eine seltene, potenziell lebensbedrohliche mukokutane Erkrankung auf Medikamente oder ihre Metabolite [1]. Es kommt zur ausgedehnten Apoptose der Keratinozyten und Epidermolyse, schmerzhafter Blasenbildung und ernsten systemischen Störungen. Die Pathophysiologie ist unvollständig verstanden. Sicher ist die Freisetzung von Meditoren, wobei Granulosyn als wichtigster Faktor der T-Zellproliferation gilt. Weitere Faktoren sind der lösliche Fas-Ligand, Perforin/Granzym, Tumornekrose-Factor-α (TNF-α) und TNF-related apoptosis-inducing ligand. Die Inzidenz von TEN liegt bei zirka 1 Million/Jahr. Das Risiko einer TEN ist zwischen dem 4. und 28. Tag nach Initiierung einer medikamentösen Therapie am höchsten [2].

Die Schwere der Erkrankung wird nach dem SCORTEN-Score [3] bestimmt ([Tab. 1]). Die Letalität steigt bei einem Score > 5 auf über 90 % an [3].

Tab. 1

SCORTEN-Score.

Risikofaktor

Score 0

Score 1

Alter

< 40 J

> 40 J

Tachykardie

< 120 Puls pro min

> 120 Puls pro min

Malignom

Nein

Ja

Körperoberfläche mit Epidermolyse

< 10 %

> 10 %

Serum-Hanrstoff

< 10 mmol/L

> 10 mmol/L

Serumglucose

< 14 mmol/L

> 14 mmol/L

Serumbicarbonat

> 20 mmol/L

< 20 mmol/L

Bei Verdacht auf toxische epidermale Nekrolyse sollte die Verwendung aller nicht lebenswichtigen Medikamente sofort gestoppt werden. Der Verdacht richtet sich insbesondere gegen Medikamente, die innerhalb der letzten vier Wochen eingenommen wurden. Die Therapie umfasst intensivmedizinische Behandlung sowie Flüssigkeitsbilanzierung, Glukokortikoide, IVIG, Schmerztherapie, Antibotika (nur bei Superinfektion) [1, 2]. Die Hautveränderungen heilen meist narbenlos ab.

Literatur

1 Lyell A. Toxic epidermal necrolysis: An eruption resembling scalding of the skin. Br J Dermatol 1956; 68: 355 – 361

2 Harris V, Jackson C, Cooper A. Review of toxic epidermal necrolysis. Int J Mol Sci 2016; 17. pii: E2135

3 Bastuji-Garin S, Fouchard N, Bertocchi M et al. SCORTEN: A severity-of-illness score for toxic epidermal necrolysis. J Invest Dermatol 2000; 115: 149 – 153


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* Vorsitz: Prof. Dr. Uwe Wollina
Berichterstatter: Frau Dr. Gesina Hansel, Dr. André Koch, Prof. Dr. Uwe Wollina
Histopathologie: Frau Dr. Jacqueline Schönlebe
Klinische Fotodokumentation: Frau Ramona Herz
Plenarvorträge: Dr. Giorgio Panin, Rovigo, Italien: Topical cutaneous and mucosal use of alfa-tocopherol acetate: from biochemistry to clinical evidence.
PD Dr. Tobias Fischer, Lübeck: Haarkrankheiten
RA Jörg Hohmann, Hamburg: Antikorruption – wer darf was in Klinik und Niederlassung?
OFA PD Dr. Gerhard Dobler: Rickettsiosen in Deutschland – unwichtig oder unbekannt?