Notfallmedizin up2date 2017; 12(02): 126-137
DOI: 10.1055/s-0043-106797
Schritt für Schritt
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Auf den Schlaganfall fokussierte neurologische Untersuchung und Implikationen für den Rettungsdienst – Schritt für Schritt

Johann Pelz
,
Dominik Michalski
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Publication Date:
02 June 2017 (online)

Hintergrund

Etwa 7% der Einsätze im Rettungsdienst sind auf zerebrovaskuläre Erkrankungen zurückzuführen [1]. Sie zählen zusammen mit akuten Bewusstseinsstörungen [2], [3] zu den häufigsten Ursachen neurologischer Notfälle. Die vorliegende Symptompräsentation erlaubt dabei auch in Kombination mit der Anamnese keine sichere Zuordnung zu den Formen des Schlaganfall (ca. 80% Hirninfarkt und 20% Hirnblutung), da hierfür eine zerebrale Bildgebung unerlässlich ist. Die Krankenhauseinweisung zur Durchführung einer bildgebenden Diagnostik ist somit – selbst bei zwischenzeitlich vollständiger Symptomregredienz – notwendig und sollte ohne Zeitverlust erfolgen. Als Akuttherapie des Hirninfarkts konnte die intravenöse (systemische) Thrombolyse hinsichtlich ihrer Effektivität mehrfach bestätigt werden (zuletzt [4]). In vielen Gebieten Deutschlands wird diese flächendeckend durch spezialisierte Zentren (Stroke Units) angeboten. Eine kritische Gruppe stellen jedoch Patienten mit einem Hirninfarkt in Folge eines großen arteriellen Gefäßverschlusses, konkret des intrakraniellen Abschnitts der A. carotis interna bzw. der A. cerebri media, dar. Hintergrund ist eine oft hohe Thrombuslast, durch die eine Wiedereröffnung des Gefäßes mit der alleinigen Anwendung der Thrombolyse oft nicht gelingt [5]. Im Jahr 2015 wurde durch die mechanische Thrombektomie, d. h. der katheterbasierten Wiedereröffnung großer arterieller Gefäßverschlüsse, ein Verfahren etabliert, das in multizentrischen Studien zu einer deutlichen Besserung des Behandlungsergebnisses im Vergleich zur alleinigen Thrombolyse führte [6]. Aufgrund des ressourcenintensiven Charakters ist die mechanische Thrombektomie derzeit noch großen Zentren vorbehalten, was die Etablierung von Konzepten notwendig macht, die eine möglichst flächendeckende Erreichbarkeit sicherstellen. Diese gewinnen zusätzlich an Bedeutung, da sich die Effektivität der mechanischen Thrombektomie als zeitkritisch erwiesen hat; die besten Erfolge sind dabei innerhalb der ersten Stunden nach dem Symptombeginn zu erzielen [7]. Vor dem Hintergrund der vergleichsweise starken Ausprägung von Schlaganfallsymptomen bei Patienten mit zugrundeliegendem Verschluss eines großen, hirnbasisnahen Gefäßes, kommt der im Rettungsdienst erfolgenden Ersteinschätzung der neurologischen Symptomatik eine entscheidende Bedeutung zu. Mit dem Ziel der unmittelbaren Einweisung von Patienten, bei denen mit erhöhter Wahrscheinlichkeit ein großer arterieller Gefäßverschluss vorliegt, in ein Zentrum mit permanent vorgehaltener lokaler Interventionsmöglichkeit ließen sich unter Berücksichtigung der aktuell zur Verfügung stehenden Literatur die vermutlich besten Behandlungsergebnisse erzielen. Als ein potenzielles Instrument der Triage kann hierfür die „National Institutes of Health Stroke Scale“ (NIHSS) [8], [9] herangezogen werden. Der Erhebung der Skala liegt eine auf Schlaganfallsymptome fokussierte, neurologische Untersuchung zugrunde, die u. a. sowohl das Bewusstsein, das Gesichtsfeld, die Motorik, die Sensibilität, die Sprache, das Sprechen, eine etwaige Koordinationsstörung der Extremitäten als auch eine halbseitige Nichtbeachtung bzw. Auslöschung (Neglect) beinhaltet. Die NIHSS kann dabei Werte von 0 bis 40 Punkten annehmen und bildet die Schwere des Schlaganfalls hinreichend genau ab. Die Punktzahl nimmt mit der Schwere der neurologischen Symptomatik zu. Je nach Wahl des Grenzwertes konnten Patienten mit einem großen arteriellen Gefäßverschluss mit guter Sensitivität erkannt werden ([Tab. 1]). Für die deutsche Version der NIHSS ([Tab. 2]) wurde eine gute Übereinstimmung zwischen verschiedenen Untersuchern gezeigt [10], was den Einsatz der Skala im Rettungsdienst als zuverlässig erscheinen lässt. Für die Durchführung werden je nach Mitarbeit des Patienten 5 – 10 Minuten benötigt. Da während der notwendigen Untersuchungsschritte Routineabläufe wie das Etablieren von venösen Zugängen oder die Ableitung des EKGs möglich sind, bleiben die beim Hirninfarkt entscheidenden zeitlichen Ressourcen gewahrt.

Tab. 1 Sensitivität und positiver prädiktiver Wert für unterschiedliche Grenzwerte der „National Institutes of Health Stroke Scale“ (NIHSS) in Bezug auf die Detektion eines großen arteriellen Gefäßverschlusses. Sensitivität ist hier definiert als: Richtig erkannte Patienten mit einem großen proximalen Gefäßverschluss im Verhältnis zu allen Patienten mit einem großen proximalen Gefäßverschluss.

NIHSS-Wert

Sensitivität

positiver prädiktiver Wert

Quelle

≥ 6

76%

55%

Lima et al., 2016 [11]

≥ 7

81%

84%

Heldner et al., 2016 [12]

≥ 9

73%

86%

Heldner et al., 2013 [13]

≥ 10

83%

97%

Fischer et al., 2005 [14]