Drug Res (Stuttg) 2017; 67(03): 191-192
DOI: 10.1055/s-0043-101872
Obituary
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Nachruf Prof. Dr. Reinhard Ludewig, klinischer Pharmakologe

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Publication Date:
06 March 2017 (online)

Am 30. November 2016 verstarb unser Kollege Reinhard Ludewig, Emeritus Professor für Klinische Pharmakologie an der Universität Leipzig. Er wurde in Dresden am 4. Oktober 1923 geboren, ist in einer gut bürgerlichen Familie aufgewachsen, war sehr musikalisch und spielte Flöte in Kirchenkonzerten. 1940/41 wurde er wehrfähig und nach dem Abitur einem Kavallerieregiment zugeteilt. Während der Kämpfe in Frankreich und Russland war er zunächst „Aufklärer“. Weil er sich schon in dieser Zeit für Medizin immatrikulierte, wurde er bereits als Sanitäter und „Hilfsarzt“ angelernt und eingesetzt. Im Rang eines Leutnants der Kavallerie ist er 1945 aus russischer Gefangenschaft nach Dresden zurückgekehrt. Sein Vater war im Februar des Jahres gestorben, und zusammen mit seinem Bruder musste er das (technische) Familienunternehmen leiten. Zwischen 1947 und 1953 konnte er in Erlangen und Wien Medizin studieren. Er promovierte 1953 bei Franz Theodor von Brücke, Direktor des Pharmakologischen Institut der Universität Wien, und ging dann nach Dresden zurück. Unter der Leitung des Internisten Wilhelm Crecelius durchlief er die Ausbildung zum Praktischen Arzt und forschte im endokrinologischen Labor des Arzneimittelwerks Dresden unter Prof. R. Thren. 1956 wechselte er an das Institut für Pharmakologie und Toxikologie der Universität Leipzig. Dessen Direktor Fritz Hauschild teilte mit Reinhard Ludewig die Auffassung, dass Pharmakologie praxisbezogen sein solle, und das war für ihn, das „Energiebündel“ Reinhard, eine ideale Konstellation. Schon im Folgejahr 1957 begann er mit Vorlesungen zur Klinischen Pharmakologie. Der klinische Unterricht in den medizinischen Fakultäten war damals auf die Differenzialdiagnose ausgerichtet, die Therapie nahm nur wenig Raum ein. Ludewig hielt eine Arzneitherapie-Vorlesung aus Sicht eines praktischen Arztes mit profunden pharmakologischen Kenntnissen. Wir (H. H. W. und D. M.) erinnern uns: Das Auditorium füllte sich in Windeseile. Ludewig avancierte zum unbestreitbar besten Lektor des Institutes, seine Kollegs hat er mustergültig strukturiert, und er hat mitreißend vorgetragen. Spätestens nach der zweiten Vorlesung im Semester warteten die erfahrenen Hörer auf Zitate aus Wilhelm Busch und Eugen Roth, mit denen er wichtige Sachverhalte und Merksätze in ihren Köpfen zu verankern suchte. Ludewig wurde folgerichtig 1975 von der Studentenschaft zum „Dr. humoris causa“ promoviert. Die Kollegs waren Erlebnisse. Im Jahr 1966 wurde die Lehrveranstaltung „Klinische Pharmakologie“ in der DDR obligatorisch, aber dieser Regelung hätte es in Leipzig gar nicht bedurft. Seit 1976 hielt er seine ehemaligen Hörer mit den „Pharmakotherapeutische Arztinformationen“ auf dem Laufenden, die bis 1982 in der „Zeitschrift für Ärztliche Fortbildung“, danach bis zu seiner Emeritierung 1989 in „Medizin aktuell“ erschienen. Immer stärker hat er auf die Gefahren durch Arzneimittelinteraktionen aufmerksam gemacht. Frühzeitig hat er darauf hingewiesen und sich dafür eingesetzt, dass bestimmte Fertigpräparate mit gleichem Gehalt des gleichen Wirkstoffes nicht ausgetauscht werden dürfen, weil ihre Galeniken und damit die Resorptionsverläufe des Wirkstoffes gefährlich unterschiedlich sein können.

Die weitere institutionelle Entwicklung der Klinischen Pharmakologie und Toxikologie unter Reinhard Ludewig. Reinhard Ludewig war und blieb politisch ungebunden, und wohl auch deshalb zögerte das Ministerium. Erst 1977, also 20 Jahre nach Beginn seiner Vorlesungen zur Klinischen Pharmakologie und 14 Jahre nach seiner Habilitation wurde er 1977 zum Dozenten ernannt. 1979 wurde er Ordentlicher Professor für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, aber erst 1982 wurde eine „Eigenständige Abteilung für Klinische Pharmakologie“ eingerichtet. 1984 wurde sie zum „Institut für klinische Pharmakologie“ erhoben und Ludewig wurde ihr Institutsdirektor. Obwohl das Ministerium den Zusatz „und Toxikologie“ in der Bezeichnung der Abteilung und des Institutes vermied, hat keiner seiner unmittelbaren Kollegen mehr zur klinischen Toxikologie beigetragen als Ludewig. Zusammen mit Volker Görisch und Hans Wellhöner organisierte er 1960 den rund um die Uhr erreichbaren toxikologischen Auskunftsdienst des Leipziger Pharmakologischen Institutes. 1961 erschien das zusammen mit Karlheinz Lohs verfasste Buch „Akute Vergiftungen“ in der 1. Auflage, 2014 als „Akute Vergiftungen und Arzneimittelüberdosierungen“ in der 11. und bisher letzten. Es wurde in mehrere Sprachen übersetzt und ist ein monumentales praxisnahes Informationswerk.

Forschung: Reinhard Ludewig hat sich sein Arbeitsthema selbst gesucht. Er hatte durch klinische Beobachtung den Eindruck gewonnen, dass hochprozentiges Wasserstoffperoxid kein einfaches „Ätzmittel“ sei, sondern bei Gewebekontakt besondere und andere Wirkungen haben müsse. Das wollte er näher untersuchen. Sein Chef Fritz Hauschild hat solche eigenständige Themenwahl immer unterstützt. Ludewigs Untersuchungen bestätigten seine Vermutungen. Er habilitierte sich mit der Arbeit „Experimenteller Beitrag zur epikutanen und intraoralen Anwendung hochprozentiger Wasserstoffperoxid-Lösungen“. Die Industrie entwickelte auf der Basis dieser Untersuchungen die Präparate Elavox®, Gingivox® und Oxyderm®.

Aktivitäten nach der Emeritierung: Reinhard Ludewig wurde 1989 emeritiert. Er schuf sich ein neues Arbeitsfeld, das er „Medizinische Graphologie“ nannte. Seine Mutter war Graphologin, und sie hat ihm ihre Kenntnisse vermittelt. Mit diesen und seinen medizinischen Kenntnissen untersuchte er das Schriftbild und dessen Wandel unter der Arzneitherapie, unter Drogeneinfluss, bei neurologischen Patienten und bei Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart und Ludwig van Beethoven. Besondere Aufmerksamkeit widmete er jeweils der Frage, ob sich eine fortschreitende Erkrankung und ein sich dabei veränderndes Schriftbild auf eine chronische Vergiftung zurückführen lasse. Nach Veröffentlichung seiner „Pathographien“ über Bach, Beethoven und Mozart wurde er zu Vorträgen im In- und Ausland eingeladen. Die Sächsische Akademie für Fort- und Weiterbildung finanzierte einen interdisziplinären Lehrauftrag „Medizinische Graphologie und Schriftpsychologie“. Die Veranstaltungen fanden großes studentisches Interesse.

Ehrungen: Reinhard Ludewig erhielt 2004 die Leipziger Universitätsmedaille, am 16. Januar 2012 das Verdienstkreuz 1. Klasse des Verdienstordens der Bundesrepublik Deutschland, und 2014 die Hermann-Eberhard-Friedrich-Richter-Medaille der Sächsischen Landesärztekammer. Zu seinem 90. Geburtstag im Oktober 2013 pflanzten seine ehemaligen Mitarbeiter ihm zu Ehren eine Linde vor der Deutschen Bücherei in Leipzig.

Abschied. H. H. W. hat Reinhard Ludewig am 28. Oktober 2016 zum letzten Mal besucht. Nach dem Tode seiner Frau lebte er allein in seinem Haus und nannte sich mit Humor seinen eigenen Altenpfleger. Wie eh und je war er lebhaft, sehr erfreut, kochte uns Kaffee und diskutierte über einen Entwurf für die Zukunft der Klinischen Pharmakologie in Deutschland, an dem er gerade schrieb. Ein paar Tage später rief er D. M. an und berichtete erfreut von diesem Besuch. Am 30. November 2016 hat ihn seine Zugehfrau leblos im Haus gefunden.

Wir, seine Freunde, beklagen den Verlust eines vorbildlich engagierten klinischen Pharmakologen und Toxikologen und eines auch in stürmischen Zeiten verlässlichen Freundes.

Hans H. Wellhöner

Diethelm Modersohn