Zeitschrift für Palliativmedizin 2022; 23(05): e29
DOI: 10.1055/s-0042-1754081
Abstracts | DGP
Individualethische und organisationsethische Aspekte

Können die normative oder die angewandte Ethik das moralische Dilemma von palliativmedizinischen Teams bei der Begleitung von Patient:innen beim freiwilligen Verzicht auf Essen und Trinken (FVET) durchbrechen?

Y-N Batzler
1   Universitätsklinikum Düsseldorf, Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin, Düsseldorf, Deutschland
,
T Tenge
2   Universitätsklinikum Düsseldorf, Klinik für Anästhesiologie, Düsseldorf, Deutschland
,
M Schallenburger
1   Universitätsklinikum Düsseldorf, Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin, Düsseldorf, Deutschland
,
C-M Stillger
1   Universitätsklinikum Düsseldorf, Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin, Düsseldorf, Deutschland
,
J Schwartz
1   Universitätsklinikum Düsseldorf, Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin, Düsseldorf, Deutschland
,
M Neukirchen
1   Universitätsklinikum Düsseldorf, Interdisziplinäres Zentrum für Palliativmedizin, Düsseldorf, Deutschland
› Author Affiliations
 

Hintergrund Die Handlung des freiwilligen Verzichtes auf Essen und Trinken (FVET) (Suizid vs. eigene Handlungskategorie vs. kein Suizid) und die Begleitung durch palliativmedizinische Teams beim FVET (Assistierter Suizid vs. Minimieren von Leid als Pflicht der Palliativmedizin) werden unterschiedlich bewertet. Es ist unklar, ob FVET moralisch integer ist. Aufseiten des Behandlungsteams kann dies zu ethischen Bedenken bezüglich der Begleitung beim FVET führen.

Methode Neben der Symptomlast von Patient:innen und der psychischen Belastung der Teammitglieder durch die Begleitung beim FVET erhoben wir mittels eines Fragebogens, wie viele Mitglieder ethische Bedenken haben, ob sich die ethische Haltung durch eine ethische Fallberatung ändert und so die Sicherheit bei der Begleitung steigt. Die Antworten wurden anhand dichotomer Variablen und einer fünfstufigen Likert-Skala erfasst und deskriptiv ausgewertet.

Ergebnisse Es nahmen 22 Teammitglieder verschiedener Professionen an der Befragung teil. 23% der Befragten waren durch die Begleitung psychisch belastet, 13% gaben ethische Bedenken an oder waren sich dahingehend unsicher. Die ethische Haltung gegenüber FVET änderte sich durch eine ethische Fallberatung bei 29%. Für 77% bot die ethische Fallberatung einen Zugewinn an Sicherheit bei der Begleitung, 82% gaben an, dass eine ethische Fallberatung in jedem Fall erfolgen soll.

Schlussfolgerung Eine Reflexion ethischer Bedenken kann durch ethische Fallberatungen ermöglicht werden, zudem bieten diese eine Handlungsgrundlage. Dies soll anhand der normativen und angewandten Ethik beleuchtet werden.

Beim FVET tritt der Tod nach autonomer Entscheidung selbstbestimmt ein. Aus deontologischer Sicht scheint der FVET moralisch vertretbar. Der FVET bietet eine bewusste Zeit der Reflexion und Interaktion mit Förderung der Akzeptanz, was Leid verringern kann. Der FVET wirkt konsequentialistisch moralisch vertretbar. Andererseits führt der FVET zu Aggregation von Leid bei Angehörigen durch einen nach vorne verlegten Tod, sodass der FVET für viele keinen Mehrwert hat und konsequentialistisch verwerflich ist. Anhand der bioethischen Prinzipien (Fürsorge, Gerechtigkeit, Autonomie, Schadensvermeidung) der angewandten Ethik stellt sich dies anders dar: Eine Ernährung gegen den Willen als Kuration verletzt die Autonomie und Integrität, sodass der FVET ethisch vertretbar erscheint.

Die normative Ethik löst das moralische Dilemma um den FVET nicht auf, wohl aber die angewandte Ethik, die in ethischen Fallberatungen ihren Ausdruck findet.



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Article published online:
31 August 2022

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