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DOI: 10.1055/s-0042-1753574
Homöopathie als distinktive Praxis sozialer Milieus. Querschnittstudie anhand Daten des European Social Survey
Einleitung Während der COVID-Pandemie kamen Widerstände gegen offizielle Maßnahmen unter anderem verstärkt aus einem Mittelschichtsmilieu mit hohem kulturellen Kapital, das der Schulmedizin kritisch und der Alternativmedizin offen gegenübersteht. Soziale Milieus finden ihre Identität in der Unterscheidung ihres Lebensstils im Vergleich zu denen anderer. Bei der Analyse des genannten Problems ist daher nicht allein die milieuspezifische Ausstattung mit Ressourcen relevant, sondern auch die Logik, nach der die einzelnen Milieus ihre Ressourcen für oder gegen etwas einsetzen. Der Beitrag untersucht die These, dass die Inanspruchnahme von Homöopathie Postmaterialisten (PM) auch dazu dient, sich horizontal von Materialisten (MA) und Konservativ-Gehobenen (KONG) sowie vertikal vom Prekariat (PREK) abzugrenzen und sich den über sie stehenden Liberal-Intellektuellen (LIBI) zu nähern. Dabei werden die Werteorientierungen Self-Direction (Openness to Change) und Universalismus (Self-Transcendence) im Sinne des Bourdieuschen Habituskonzepts als mögliches Scharnier zwischen Milieuzugehörigkeit (sozialer Raum) und Inanspruchnahme von Homöopathie (Raum der Lebensstile) untersucht.
Methoden Datenbasis ist die deutsche Stichprobe (n=3.045) der 2014 durchgeführten Runde 7 des European Social Survey. Die Bestimmung der Milieuzugehörigkeit der Befragten wurde mit einem validierten Klassenmilieu-Schema durchgeführt. Mittels binär-logistischer Regression wurde untersucht, inwiefern Milieuzugehörigkeiten, Einkommen, Bildung, Universalismus und Self-Direction mit der Inanspruchnahme von Homöopathie assoziiert sind. Berichtet werden Odds Ratio (OR).
Ergebnisse Im unadjustierten Modell nutzen MA (OR 0,44), KONG (OR 0,71) und das PREK (OR 0,40) mit signifikant geringerer Wahrscheinlichkeit Homöopathie als PM. Werden Alter, Geschlecht, Einkommen und Bildung ins Modell aufgenommen, nutzen MA (OR 0,64), KONG (0,56), das PREK (OR 0,54) als auch LIBI (0,53) mit signifikant geringerer Wahrscheinlichkeit Homöopathie als PM. Je höher das Einkommen (OR 1,47) und die Bildung (OR 3,40), desto wahrscheinlicher die Inanspruchnahme von Homöopathie. Werden zusätzlich die beiden Werteorientierungen ins Modell aufgenommen, zeigen sich für Universalismus (OR 1,59), Self-Direction (OR 1,37), hohes Einkommen (1,55) und hohe Bildung (2,73) erhöhte, für MA (OR 0,71), KONG (0,64), LIBI (0,54) und das PREK (OR 0,62) geringere Wahrscheinlichkeiten, Homöopathie in Anspruch zu nehmen.
Schlussfolgerung Mit dem Klassenmilieu-Schema konnten theoretisch postulierte horizontale Ungleichheiten in der Inanspruchnahme von Homöopathie nachgewiesen werden, die klassische SES-Indikatoren nicht aufzudecken vermögen und die sich, wie sich gezeigt hat, nicht über milieuspezifische Ungleichheiten in ökonomischen und kulturellen Ressourcen erklären lassen.
Publikationsverlauf
Artikel online veröffentlicht:
22. August 2022
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