Hebamme 2016; 29(06): 334
DOI: 10.1055/s-0042-122102
Editorial
Hippokrates Verlag in Georg Thieme Verlag KG Stuttgart

Interventionen: Nutzen oder Schaden?

Christine Allgeier
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Publication Date:
03 January 2017 (online)

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Diese Frage leitete die beiden Tage des 11. Forum Hebammenarbeit im November in Mainz.

Wenn wir an Interventionen denken, fallen uns als erstes invasive, kontrovers diskutierte Maßnahmen ein wie der Kristeller-Handgriff. Maßnahmen, die sehr sichtbar, körperlich und ad hoc in einen natürlichen Ablauf eingreifen und deren unerwünschte Nebenwirkungen wir häufig und meist unmittelbar beobachten müssen. Diese Art Maßnahmen sind nicht von Hebammen initiiert, es sind medizinische Maßnahmen, mit denen wir irgendwie Negatives assoziieren.

Selbstverständlich ist der Begriff Intervention sehr viel weiter gefasst. In der Forschung gilt grundsätzlich jedes gezielte Eingreifen in ein Geschehen als Intervention. Alle Maßnahmen, mit denen man etwas erreichen, etwas verändern, möglichst verbessern möchte. Dazu zählen auch Maßnahmen, die nicht körperlich invasiv sind, sondern auf einer leiblichen, seelischen oder kognitiven Ebene mittelbar geschehen und Maßnahmen, die längerfristig wirken und für deren Erfolg wir einen längeren Atem brauchen. Dazu zählen auch komplexe Interventionen wie die GeliS-Studie, die viele kleine Schritte beinhalten und an denen verschiedene Berufsgruppen beteiligt sind.

Langer Rede, kurzer Sinn: Auch die originäre Hebammenarbeit ist in diesem Sinne eine Intervention. Hebammen greifen auf vielfältige Art und Weise ein in das leibliche, seelische, soziale Geschehen schwanger sein und Kinder kriegen.

Interventionen sind leider nicht per se gut oder sinnvoll, weil wir mit ihnen etwas Gutes und Sinnvolles erreichen wollen, weil sie nicht körperlich invasiv sind oder weil sie sanft daherkommen wie die Phytotherapie.

Deshalb werden Interventionen evaluiert. Man sucht die Antwort auf die Frage: Nützt die Intervention oder nützt sie nicht oder schadet sie sogar?

Das scheint auf den ersten Blick einfach: Welchen Nutzen wir uns von der jeweiligen Intervention erhoffen, ist doch klar: Wir wollen Tod und Krankheit abwenden, die Gesundheit von Mutter und Kind fördern, die Physiologie erhalten, die Zufriedenheit erhöhen, zu Empowerment, Wohlbefinden und Lebensqualität beitragen.

Auch welchen Schaden wir befürchten, scheint ebenso klar: Wir wollen nicht, dass unser Tun unwirksam ist und wir damit Erwartungen enttäuschen, gar Pathologie verursachen, wir wollen keinen Verlust an Selbstbestimmung herbeiführen, keine Schamgefühle, Traumatisierung, Stress und Angst, Belastungen fürs Kind verursachen.

Doch wenn wir genauer hinschauen, zeigt sich, wie kniffelig es ist. Allein schon eine Intervention so zu beschreiben, dass die Beschreibung wirklichkeitsnah ist, dass sie in der jeweiligen Disziplin auf breiten Konsens trifft, dass möglichst viele von Ihnen aus der Praxis sagen können, ja so mache ich das.

Nicht weniger schwierig ist es, die Wirkungen von Interventionen zu untersuchen und abzuwägen. Beispiel Zufriedenheit: Die Aussagen von Frauen, ob bzw. in welchem Ausmaß sie zufrieden mit der Geburt waren, fallen sehr verschieden aus, und zwar abhängig davon, zu welchem Zeitpunkt man sie fragt, zeitnah nach der Geburt oder Tage und Wochen später. Welche Zufriedenheit sollte uns interessieren, die kurzfristige oder die langfristige?

Außerdem: Was heißt eigentlich zufrieden sein mit dem Geburtserlebnis? Ist die Aussage „Hauptsache Mutter und Kind sind gesund“ zu wenig? Oder überhöhen wir das Geburtserlebnis, wenn wir wollen, dass Frauen sich mit positiven Gefühlen an die Geburt erinnern?

Dies alles zeigt: Nutzen und Schaden zu messen, ist kniffelig und fehleranfällig. Oft sind die Erkenntnisse nicht eindeutig. Außerdem haben die meisten Interventionen sowohl Vorteile als auch Nachteile wie die zwei Seiten einer Medaille. Und alle Interventionen müssen beweisen, dass sie besser wirken und weniger schaden als das „Nichtstun“.

Das heißt für die Wissenschaft, dass das Aussprechen von Empfehlungen nicht einfach ist und das heißt für Sie in der Praxis, dass die Anwendung dieser Empfehlungen nicht einfach ist. Die Hebamme will Sie hierbei unterstützen.

Ich wünsche Ihnen viel Spaß beim Lesen.

Ihre

Christine Allgeier