Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(10): 607
DOI: 10.1055/s-0042-117285
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

„Nicht suizidal“: Wie valide ist dieses klinische Urteil?

“Not suicidal”: How valid is this clinical judgment?
J. Kornhuber
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Publication Date:
27 October 2016 (online)

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Der Suizid eines Menschen bringt erhebliches Leid über Angehörige, Freunde oder auch Arbeitskollegen. In den betroffenen Familien wirkt er oft über Generationen nach. Täglich haben Ärzte die Suizidalität bei ihren Patienten zu beurteilen. Meist schließt sie ab mit einer dichotomen Entscheidung: „nicht-suizidal“ vs. „suizidal“. Doch wie valide sind diese klinischen Urteile?

Schon lange wurde die Schwierigkeit betont, Suizide auf einem klinisch sinnvollen Niveau vorherzusagen [1] [2] [8] [9]. Verantwortlich dafür sind vor allem das Fehlen eindeutiger Prädiktoren und die niedrige Prävalenz von Suiziden. Die Genauigkeit der Vorhersage würde selbst bei stationär behandelten psychiatrischen Patienten mit deutlich erhöhtem Suizidrisiko und bei Anwendung eines hypothetischen Tests mit extrem niedrigen falsch-positiven und falsch-negativen Ergebnissen unter 20 % liegen [8]. Diese theoretischen Überlegungen stimmen mit den Ergebnissen empirischer Studien überein. Prädiktoren für Suizide während einer stationären psychiatrischen Behandlung sind unter anderem eine Familienanamnese mit Suiziden, vorbestehende Selbstverletzungen, Schuldgefühle und Hoffnungslosigkeit. Patienten, die sowohl unter Schizophrenie als auch unter depressiver Stimmung leiden, tragen ein besonders hohes Risiko. Stationäre Suizide können allerdings aufgrund ihrer geringen Inzidenz kaum durch eine Kategorisierung der Patienten in eine Hochrisiko- bzw. Niedrigrisikogruppe vermieden werden [6]. Eine Metaanalyse kontrollierter Studien zu Suiziden innerhalb eines Jahres nach der Entlassung aus dem psychiatrischen Krankenhaus fand weder relevante Risikofaktoren noch einen empirischen Beleg für den Nutzen einer Risikokategorisierung [5]. Eine andere Metaanalyse zur Suizidrisikobewertung psychiatrischer Patienten zeigt, dass die häufig verwendete Einteilung in Hochrisiko- und Niedrigrisikopatienten nicht sinnvoll ist [4]. Eine ähnliche Schlussfolgerung wurde aus der Analyse von Patienten gezogen, die nach einem Suizidversuch in eine Notaufnahme kamen. Das Risiko für einen wiederholten Suizidversuch wurde als gering, moderat oder hoch eingestuft. Das höchste Risiko für einen erneuten Suizidversuch innerhalb von 12 Monaten bestand in der Hochrisikogruppe. Allerdings war der prädiktive Wert der Risikobeurteilung gering. Eine große Zahl von Wiederholern fand sich in den Gruppen mit niedrigem und mittlerem Suizidrisiko. Die vorausgegangene Beurteilung von Psychiatern war nur wenig besser als die des Notfallpersonals [3].

Zusammengenommen ist es derzeit nicht möglich, Suizide in einem klinisch nützlichen Maß zu prognostizieren. Präventionsstrategien mit Fokus auf der Hochrisikogruppe sind momentan nicht erfolgreich. Jeder Psychiater sollte den begrenzten prädiktiven Wert der dichotomen Beurteilung der Suizidalität kennen. Auch die vermeintlich nicht suizidalen stationären Patienten bedürfen einer hohen Aufmerksamkeit. Wichtig sind optimale Therapien und geeignete Krankenhausumgebungen, die allen Patienten zugutekommen [7].

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Johannes Kornhuber