Fortschr Neurol Psychiatr 2016; 84(07): 403
DOI: 10.1055/s-0042-111335
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Neurexit – nein danke!

No neurexit please
P. Berlit
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Publication Date:
29 July 2016 (online)

Das hätte keiner geglaubt: Dass die Briten tatsächlich so abstimmen, dass Großbritannien aus der Europäischen Union austritt, dass es also den Brexit wirklich gibt. Ein Schritt, der nicht nur die Situation in Europa maßgeblich verändert, sondern natürlich auch Auswirkungen auf die Weltwirtschaft haben wird. Wir dürfen gespannt sein, wie sich die Europäische Union nun entwickelt, welche Wege sie finden wird, mit den anstehenden Problemen – allen voran die Themen Flüchtlinge und die gemeinsame Währung – fertig zu werden.

Zum Glück gibt es in der Neurologie (noch) keinen Brexit oder besser gesagt Neurexit, obwohl immer wieder an ganz unterschiedlichen Stellen entsprechende Diskussionen aufkommen. Dies gilt beispielsweise für die Geriatrie, die Notfallmedizin, die Schlafmedizin und die Schmerzbehandlung, aber auch für Teilgebiete wie Neuroophthalmologie, Neurootologie, Neurourologie oder Neuroonkologie. Alle diese Bereiche sind in der neurologischen Weiterbildung verankert und spielen im klinischen Alltag des Neurologen eine große Rolle. Begriffe wie Neurogeriatrie und Neurointensiv zeigen, dass unser Fach hier eine besondere Kompetenz besitzt. Dies spiegelt sich auch darin wider, dass Fachbücher zu diesen Themen und die wissenschaftliche Literatur zur Schmerz- und Schlafforschung zu einem Großteil aus neurologischer Feder stammen.

Mit dem Konzept des Notfallmediziners, der mit einer Grundkompetenz für alle in der interdisziplinären Notaufnahme eintreffenden Patienten auch neurologische Krankheitsbilder erstdiagnostizieren und behandeln soll, des fachübergreifenden Intensivmediziners oder des internistischen Geriaters droht ein Verdrängen der Neurologie aus wichtigen klinischen Teilbereichen zum Nachteil der Patienten.

Wir alle wissen, dass eine wirklich kompetente Schlafmedizin nur dann betrieben werden kann, wenn Pulmologen, HNO-Ärzte und Neurologen zusammenarbeiten. Dasselbe gilt für die Schmerztherapie, die zwar oft in anästhesiologischer Hand ist, aber ohne eine entsprechende neurologische Kompetenz in wesentlichen Teilbereichen unbefriedigend bleibt.

Und dann geht es weiter mit dem Schlaganfall: Nach der erfolgreichen Implementierung des neurologischen Stroke-Unit-Modells kam das Konzept der Stroke Unit light unter internistischer Leitung auf – mit dem Argument, dass Neurologen nicht in der Lage seien, flächendeckend Schlaganfälle zu versorgen. Inzwischen ist erwiesen, dass die interventionelle Behandlung des Schlaganfalls, die Thrombektomie mit Stent-Retrievern, deutlich effektiver ist als die intravenöse Lyse mit rTPA, und wir Neurologen müssen aufpassen, dass wir die Behandlungshoheit über die Akutversorgung des Schlaganfalls behalten. Es kann nicht sein, dass jetzt unter der Prämisse einer flächendeckenden interventionellen Schlaganfalltherapie plötzlich Kardiologen Thrombektomien beim akuten Schlaganfall durchführen.

Und was ist mit den Hirntumoren in einer nicht spezialisierten neurologischen Klinik? Übernehmen nach der Diagnosestellung durch den Neurologen die Neurochirurgen, Strahlentherapeuten oder Onkologen allein die Regie?

Werden womöglich die immer individualisierter und komplexer werdenden immunmodulierenden Behandlungen mit monoklonalen Antikörpern bei neurologischen Erkrankungen – auch aus Kostengründen – an onkologische Ambulanzen delegiert?

Die Neurologie muss aufpassen, dass sie nicht die Kompetenz für viele ihrer spannendsten Bereiche vorschnell in die Hand von Nachbardisziplinen gibt. Dabei geht es nicht um Besitzstandswahrung, sondern es geht darum, unseren Patienten eine optimale Diagnostik und Therapie anzubieten.

Zunehmend werden dabei fachübergreifende Konzepte erforderlich, die in enger Abstimmung mit den involvierten Fachdisziplinen implementiert und umgesetzt werden müssen. Nach dem Vorbild der interdisziplinären Tumorkonferenz sollte es auch neurovaskuläre, altersmedizinische, Schlaf- und Schmerzkonferenzen geben, in denen der einzelne Patient interdisziplinär diskutiert und individuell die beste Behandlung festgelegt wird. Kliniken und Praxen, in denen solche interdisziplinären Konzepte gelebt und umgesetzt werden, sind die Einrichtungen der Zukunft, mit sektorübergreifenden Konzepten und in der Regel einer besseren Versorgungsqualität.

Wir Neurologen müssen nicht in allen Teilbereichen federführend sein, aber wir müssen unsere Fachkompetenz in entsprechende Versorgungsstrukturen einbringen und das fachübergreifende Denken unseren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Fachweiterbildung vermitteln.

Und das ist der Grund, warum die Neurologie sich gegen ein „Neurexit“ von Notfallmedizin, Altersmedizin, Schmerzmedizin oder Schlafmedizin wehren muss. Dass wir dabei eng mit der Psychiatrie als unserer Schwesterdisziplin zusammenarbeiten, dokumentiert dieses Heft der Fortschritte, in dem auf die Erfassung neuropsychiatrischer Störungen bei Parkinson-Syndromen ebenso eingegangen wird wie auf den Stellenwert neuropsychologischer Zusatzgutachten.

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Prof. Dr. med. Peter Berlit