Geburtshilfe Frauenheilkd 2021; 81(06): e11
DOI: 10.1055/s-0041-1730472
Endokrinologie & Reproduktionsmedizin

Die Entwicklung der Mehrlingsgeburten in Österreich seit 1946 – Hellin, der Babyboom, der Pillenknick und die Reproduktionsmedizin

L Kubanda
1   KPJ, Medizinische Universität, Innsbruck
,
C Brezinka
2   Univ.Klinik für Frauenheilkunde, Innsbruck
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Einleitung 1895 veröffentlichte der polnische Pathologe Dionyzy Hellin (1867-1935) die später nach ihm benannte Regel, wonach auf 89 Einlingsgeburten eine Zwillingsgeburt kommt. Die Hellinsche Regel stellt kein Naturgesetz dar, sondern basiert auf den Eintragungen von geborenen und getauften Kindern in sächsischen Pfarrbüchern im 19.Jahrhundert. Der reale Verlauf der Inzidenz von Zwillingsgeburten in einer Bevölkerung weist seit damals beträchtliche Schwankungen und Veränderungen auf, die vor allem auf die Einführung reproduktionsmedizinscher Maßnahmen zurückzuführen sind.

Material und Methodik Anhand der Zahlen der Statistik Austria und des Geburtenregisters wurden die Mehrlingszahlen in Österreich ab 1946 erhoben und deren Verlauf über den „Babyboom“ Ende der 1950er Jahre, den „Pillenknick“ Anfang der 1970er Jahre und den Einfluss reproduktionsmedizinischer Maßnahmen ab Mitte der 1980er Jahre dokumentiert. Die Daten werden zur besseren Veranschaulichung grafisch dargestellt.

Ergebnisse Die geburtenstarken Jahrgänge, der „Babyboom“, der in Österreich um 1955 begann, führten zu keiner Zunahme von Mehrlingsgeburten. Im Jahr 1960 wurden deutlich weniger Zwillinge geboren, als nach der Hellinschen Regel zu erwarten gewesen wäre, im Jahr 2000 wesentlich mehr. In dem Maße, in dem Medikamente zur Follikelstimulation und zur Ovulationsauslösung zur Verfügung standen, stieg in Österreich und den Nachbarländern die Rate der Mehrlingsgeburten ab 1988 signifikant an. Aufgrund Risiken, die Mehrlingsschwangerschaften mit sich bringen, wurden in vielen Ländern Empfehlungen und Anweisungen zur Reduktion der Mehrlinge ausgegeben. Die erstmals 2010 publizierten Empfehlungen der Österreichischen Fachgesellschaften, bei IVF möglichst nur einen Embryo zu transferieren und auf jeden Fall höhergradige Mehrlinge zu vermeiden, führte zu einem zunächst langsamen, aber doch markanten Absinken der bis dahin angestiegenen Mehrlingsrate in Österreich.

Zusammenfassung Da Mehrlingsschwangerschaften, vor allem höhergradige Mehrlinge (Drillinge, Vierlinge), ein erhöhtes Risiko für Frühgeburtlichkeit haben und Kinder oft am Rande der Lebensfähigkeit geboren werden, führte die vor allem von Kinderärzten als „Epidemie“ wahrgenommene Zunahme der Mehrlingsgeburten nach dem Jahr 2000 zu heftiger Kritik an den Reproduktionsmedizinern. Die präsentierten Zahlen zeigen, dass die Empfehlung, den Single Embryo Transfer beim IVF zu bevorzugen, zu einem Rückgang der Mehrlingsgeburten geführt hat.

Interessenskonflikt Keiner.



Publication History

Article published online:
02 June 2021

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  • Literatur

  • 1 Kubanda L. Die Entwicklung von Mehrlingsgeburten in Österreich nach 1945, Diplomarbeit Medizinische Universität Innsbruck. 2021