Suchttherapie 2016; 17(01): 16
DOI: 10.1055/s-0041-110737
Buchbesprechung
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Freiheit – Psychobiologische Errungenschaft und neurokognitiver Auftrag

Contributor(s):
L. Tebartz van Elst
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Publication Date:
11 February 2016 (online)

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Ludger Tebartz van Elst (TvE) legt einen sehr interessanten und zudem unterhaltsamen Essay zur Diskussion um die Willensfreiheit vor. Gibt es Willenshandlungen oder ist die Zuschreibung von Handlungen eine nachträgliche Selbstbeschreibung von Akteuren? Diese Frage rücken führende Neurobiologen in den Mittelpunkt der Interpretation neurobiologischer Forschungsergebnisse (Das Manifest. Über Gegenwart und Zukunft der Hirnforschung, 2004). Laut Singer lassen sich Verhaltensmanifestationen wie Vorstellen, Bewerten, Planen und Entscheiden objektivieren und „im Sinne kausaler Verursachung auf neuronale Prozesse zurückführen“. (Singer in: Hirn als Subjekt, 2007)

Der Schlüssel der Argumentation TvE in Auseinandersetzung mit diesen Modellen ist die konsequente Naturalisierung von „Freiheit“ als Faktum, das sich in der biologischen Evolution höherer Lebewesen (insbesondere beim Menschen) mit der Auflösung fester Reiz-Reaktions-Ketten bzw. der Reflexhaftigkeit von Verhalten ergibt. „Das fundamental Neue v. a. höherer Lebewesen und insbesondere des Menschen im Vergleich zur unbelebten Natur besteht ... darin, dass sie dazu in der Lage sind, episodisch stattfindende Ereignisse körperlich abzubilden und auf Grundlage dieser körperlichen Repräsentationen von Zeitereignissen Erkenntnisse zu bilden.“ D. h. die Lebewesen entwickeln zielgerichtetes Verhalten, das unter Rückgriff auf die eigene Erfahrungs- und Erkenntniswelt generiert wird. Diese gerichteten Phänomene sind Teil der physikalischen Welt, können aber aus der Außenperspektive bzw. durch die Naturgesetze der klassischen Physik nicht überzeugend aufgeklärt werden (89). Daher operiert „die organische Erkenntnisbildung ... ganz wesentlich mit den Konzepten der causa finalis [nach Aristoteles – PD] bzw. der intentionalen Deutung von Verhalten als zentrale Relation der Ordnung und Komplexitätsreduktion von Ereignisabfolgen im Bereich der höheren Biologie (96).“

Verursachung (von behavioralen Sequenzen, Verhalten) durch Intentionen (bei höheren Lebewesen) bzw. durch Intentionen und Gründe (beim Menschen) werden anhand von Willenshandlungen im Alltag – anhand der Konfrontation mit der Entscheidung „Tee, Kaffee oder Bier“ beim sonntäglichen Frühschoppen behandelt. Hier kommen „neben den situativen Bedürfnissen und Entscheidungsvariablen (Hunger, Durst, Aussehen und Geruch der Nahrungsmittel usw.) ... auch Erfahrungen (‚Kaffee schlägt mir auf den Magen’) und erwartete Konsequenzen (‚Tee macht meine Zähne gelb’, ‚Die anderen werden über mich reden’) beim Entscheidungsprozess zum Tragen (59).“ Diese Erfahrungen – Handlungsoptionen und erwartete Konsequenzen – können nur vor dem Hintergrund von biografisch etabliertem Wissen verstanden werden.

Vertreter eines physikalischen oder neurobiologischen Determinismus würden zugestehen, dass Vorhersagen, für welches Getränk sich der Gefragte entscheidet, aktuell (aufgrund fehlender Technik) noch nicht möglich sind, aber die entsprechende Antwort dennoch kausal determiniert ist. TvE hält den Prozess der an Erkenntnisse gebundenen Entscheidungsfindung dagegen für notwendig nicht determinierbar – was richtige Vorhersagen mit überzufälliger Wahrscheinlichkeit nicht ausschließt (63). Seine Begründung liegt gerade in der Körperlichkeit der lebenszeitlich etablierten Eigenschaften, in der „nicht reproduzierbare(n) Einzigartigkeit des erkennenden Körpers in Raum und Zeit (60f)“.

Damit will TvE Bedingtheit von Verhalten oder Wirkzusammenhängen gerade nicht aufgeben. Die Weiterverfolgung dieses evolutionsbiologischen Strangs einer „Naturgeschichte des Geistes“ erfolgt in Richtung einer evolutionären Anthropologie, bei der die biologischen Grundlagen von Kultur und Gesellschaft, soziokulturelle Lebensweisen des Menschen sowie seine speziellen kognitiven Fertigkeiten in den Mittelpunkt rücken. Das brauchen die Erklärungsmodelle der Neurobiologie sowie der Sozialwissenschaften.

TvE erörtert die Thematik als Neurobiologe, Psychiater und Psychotherapeut. Bei der klinischen Analyse von psychischen Störungen kann die Willensfreiheit auf ganz unterschiedliche Art und Weise gestört sein. Für die Möglichkeit von Psychotherapie ist dabei zentral, ob etwa Fehldeutungen von Intentionen anderer als naturgesetzlicher Kausalzusammenhang (nomologisch) oder aus verständlichen Gründen (explanatorisch) gedeutet werden.

Im Untertitel spricht TvE vom „neurokognitiven Auftrag“ für den Neurologen, der darin besteht, gegen Stereotypisierung des Denkens als Grundzug bei psychische Störungen, die aktive Rolle des Therapeuten zu betonen und Methoden zur Stärkung von Handlungsfähigkeit, Autonomie und Vernunft heraus zu arbeiten. Dieser behandlungsrelevante Aspekt ist noch nicht vertieft. Wir dürfen gespannt sein!

Peter Degkwitz, Hamburg