Laryngorhinootologie 2015; 94(12): 846-847
DOI: 10.1055/s-0041-108207
Gutachten + Recht
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Es kommt auf den Zugangsweg an: Akustikusneurinome auch zukünftig in HNO-ärztlicher Hand

L. Kuball
,
A. Wienke
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Publication Date:
15 December 2015 (online)

Das Bundessozialgericht (BSG) hat in seinem jetzt veröffentlichten Urteil vom 23.06.2015 – B 1 KR 20/14 R – festgestellt, dass die operative Entfernung von Akustikusneurinomen mittels Kraniotomie bei subokzipital-retromastoidalem Zugang nicht in das Fachgebiet der HNO-Heilkunde, sondern ausschließlich in das Fachgebiet der Neurochirurgie falle und daher nicht von HNO-Ärzten erbracht und abgerechnet werden dürfe. Diese Entscheidung hat bei einer ganzen Reihe von HNO-Chirurgen angesichts der langen Tradition entsprechender Operationsverfahren im HNO-Fach für erhebliches Unverständnis gesorgt, aber auch Rechtsunsicherheit hervorgerufen. Bei näherer Betrachtung des der Entscheidung zugrundeliegenden Sachverhalts und eingehender Würdigung der Entscheidungsgründe des Gerichts gelangt man jedoch zu der Erkenntnis, dass die Entscheidung des BSG nicht das vollständige „Aus“ der Operationen von Akustikusneurinomen für HNO-Ärzte bedeutet. Vielmehr kommt es für die Fachgebietszuordnung maßgeblich auf den operativen Zugangsweg an.

  1. In dem der Entscheidung des BSG zugrunde liegenden Fall ging es um die operative Entfernung eines Akustikusneurinoms. Diese wurde von einem HNO-Arzt in einem Krankenhaus durchgeführt, dessen Versorgungsauftrag Betten für die Fachrichtung HNO-Heilkunde und Chirurgie, nicht aber Neurochirurgie, umfasste. Der Tumor wurde mittels Kraniotomie bei subokzipital-retromastoidalem Zugang linksseitig entfernt. Anschließend rechnete das Krankenhaus die Behandlung gegenüber der Krankenkasse mit der DRG B20B (Kraniotomie) ab. Die Krankenkasse verweigerte die Begleichung der Rechnung allerdings mit der Begründung, dass der durchgeführte Eingriff dem Fachgebiet der Neurochirurgie zuzuordnen sei und der zuerkannte Versorgungsauftrag des Krankenhauses neurochirurgische Eingriffe nicht umfasse. Daraufhin verklagte das Krankenhaus die gesetzliche Krankenkasse auf Zahlung der ausstehenden Operationsleistungen – jedoch durch alle Instanzen vergeblich. Das BSG bestätigte nun die Auffassung der Krankenkasse und führte aus, dass Krankenhausträgern von Plankrankenhäusern nur dann ein Vergütungsanspruch zustehe, wenn die Behandlung vom Versorgungsauftrag des Krankenhauses auch umfasst sei. Hierzu stellte das BSG klar, dass Krankenhäuser zur umfassenden Durchführung von Behandlungen im Rahmen ihrer Versorgungsaufträge verpflichtet seien, jedoch nicht darüber hinaus. Eine Ausnahme von diesem Grundsatz bestehe nach Ansicht des Gerichts lediglich in Notfällen, wovon bei einer planbaren Operation – wie hier – jedoch nicht ausgegangen werden könne. Danach sei es als grober Verstoß gegen wesentliche Grundlagen des GKV-Systems zu werten, wenn eine stationäre Behandlung in einem Krankenhaus ohne Zulassung für die konkrete Leistungserbringung vorgenommen werde. Damit steht fest: stationäre (operative) Behandlungen dürfen nur vorgenommen werden, wenn sie vom Versorgungsauftrag des jeweiligen Krankenhauses umfasst sind.

  2. Im hier maßgeblichen Einzelfall lag nach Ansicht des Gerichts eine Überschreitung des Versorgungsauftrags vor, da ein operativer Zugangsweg gewählt wurde, der zweifelsfrei in das Fachgebiet der Neurochirurgie und nicht in das der HNO-Heilkunde falle. Operative Eingriffe, die ober- und unterhalb des Kleinhirnzeltes (Tentorium cerebelli) intrazerebral vorgenommen würden, um Tumore zu operieren, und deswegen die Eröffnung der Schädeldecke nebst der harten Hirnhaut (Dura mater) erforderten, seien dem Fachgebiet der Neurochirurgie zuzuordnen. Dies beruhe in erster Linie darauf, dass der spezifische Zugangsweg wegen seiner besonderen Anforderungen neurochirurgische Kompetenz voraussetze. Die Feststellungen des BSG bedeuten jedoch nicht, dass Akustikusneurinome generell nicht mehr von HNO-Ärzten operiert werden dürften. Das BSG stellte bei seiner Entscheidung vielmehr maßgeblich auf den gewählten Zugangsweg ab. Zugangswege, die in das Fachgebiet der Neurochirurgie fielen, müssen von Neurochirurgen durchgeführt werden, während HNO-Ärzte weiterhin Eingriffe vornehmen dürfen, die ihren operativen Zugang im Gebiet der HNO-Heilkunde haben. Sowohl der transtemporale als auch der translabyrinthäre Operationszugang fallen naturgemäß in das Kerngebiet der Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde und dürfen dementsprechend auch weiterhin (nur) von HNO-Ärzten vorgenommen werden.

  3. Damit kommt es für die Frage, wer die operative Entfernung eines Akustikusneurinoms vornehmen darf, vor allem darauf an, wie groß der Tumor ist und welche anatomischen Bereiche er eingenommen hat. Sind vornehmlich Areale betroffen, die im oder in unmittelbarer Nähe zum inneren Gehörgang liegen und durch bzw. nah um diese anatomischen Areale herum operativ erreicht werden können, fallen solche Eingriffe in das Fachgebiet der HNO-Heilkunde und sind HNO-Ärzte zur Durchführung der entsprechende Operationen berechtigt. Ist der Tumor jedoch weit in die hintere Schädelgrube hineingewachsen und bedrängt er das Klein- und/oder Stammhirn, zählt ein entsprechender operativer Eingriff zum Fachgebiet der Neurochirurgie und darf nur unter der maßgeblichen Leitung von Neurochirurgen durchgeführt und abgerechnet werden. Somit ist vor Durchführung der Operation eine möglichst genaue Lokalisation des Tumors erforderlich, damit bestimmt werden kann, welcher Operateur für die Entfernung zuständig ist. Sollte die Lage des Tumors weder dem einen noch dem anderen Fachgebiet eindeutig zuzuordnen sein, kann auch eine Zusammenarbeit von HNO- und Neurochirurg erforderlich werden. Das BSG orientierte sich für die Beantwortung der Frage der Fachgebietszugehörigkeit in erster Linie an dem Inhalt der (länderspezifischen) Weiterbildungsordnung. Entsprechend der (hier niedersächsischen) Weiterbildungsordnung umfasst die HNO-Facharztkompetenz Kenntnisse, Erfahrungen und Fertigkeiten operativer Eingriffe einschließlich endoskopischer und mikroskopischer Techniken an Ohr, Ohrschädel, Gehörgang und Ohrmuschel einschließlich Felsenbeinpräparation. Übersehen wurde bei der Entscheidung des BSG allerdings, dass auch die Mitwirkung bei Eingriffen höherer Schwierigkeitsgrade, insbesondere bei mikrochirurgischen Ohroperationen und großen tumorchirurgischen Operationen im Kopf – Hals – Bereich zu den anerkannten Behandlungsverfahren der HNO-Heilkunde zählt. Auch die meisten Weiterbildungsordnungen der übrigen Bundesländer beinhalten die HNO-fachärztliche Mitwirkung bei umfassenderen Eingriffen. Daher dürfen HNO-Chirurgen wie bisher in arbeitsteiliger Zusammenarbeit mit Neurochirurgen Akustikusneurinome über den retrosigmoidalen Zugang entfernen, indem der Neurochirurg den Zugang operiert und der HNO-Chirurg die intrameatale Versorgung übernimmt. Eine derartige Mitwirkung von HNO-Ärzten ist vom Versorgungsauftrag eines für die Hals-Nasen-Ohrenheilkunde zugelassenen Krankenhauses umfasst und muss somit auch von den Krankenkassen vergütet werden. Hierbei ist eine Abrechnung des Eingriffs als „Kraniotomie“ jedoch nur zulässig, wenn sich der Versorgungsauftrag des Krankenhauses neben der HNO-Heilkunde auch auf die Neurochirurgie bezieht. In Krankenhäusern, die neben einer HNO-Abteilung nicht auch über eine neurochirurgische Abteilung verfügen, kann die Entfernung des Akustikusneurinoms über den retrosigmoidalen Zugang im Sinne einer Kraniotomie nicht durchgeführt und nicht abgerechnet werden.