intensiv 2015; 23(05): 242-243
DOI: 10.1055/s-0041-105612
Kolumne
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Ein Klischee kommt selten allein

Heidi Günther
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Publication Date:
04 September 2015 (online)

Man muss das Unmögliche versuchen, um das Mögliche zu erreichen.

(Hermann Hesse)

Der Deutsche an sich ist überpünktlich, Sicherheitsfanatiker, sehr diszipliniert, fleißig und humorlos. Der Bayer läuft nur in Lederhose oder Dirndl durch die Gegend und ernährt sich hauptsächlich von Bier. Der Schwabe ist geizig, der Norddeutsche mürrisch, und von den Sachsen will ich gar nicht erst reden. Alles Klischees.

Für die Amerikaner ist Deutschland eine einzige Autobahn und das Land, das David Hasselhoff nur mit seinem Gesang zur deutschen Einheit geführt hat. Für viele Asiaten sind wir ein einziges Neuschwanstein und so klein, dass ein Tagesausflug auszureichen scheint, um alles gesehen zu haben. Der Franzose mag uns ohnehin nicht usw. usw. Auch alles Klischees. Also „… vorgeprägte Wendungen, abgegriffene und durch allzu häufigen Gebrauch verschlissene Bilder, Ausdrucksweisen, Rede- und Denkschemata, die ohne individuelle Überzeugung einfach unbedacht übernommen werden“ (G. v. Wilpert, Sachwörterbuch der Literatur).

Dabei müssen wir gar keine Ländergrenzen überschreiten, um auf Klischees zu stoßen. Und auch keine Klischees bemühen, die schon einen Bart haben – wie Frauen können nicht einparken. Allein die hartnäckigen Klischees über unseren Beruf könnten Seiten füllen. Krankenschwestern sitzen nur rum und trinken Kaffee. Sie sind unfreundlich und grob. Keine bleibt unnötig lange in diesem Beruf und das Hauptbestreben ist es ohnehin, sich einen flotten Arzt zu „angeln“. Ach ja, und alle Pfleger sind schwul. Es könnte allerdings auch noch schlimmer kommen – nur gut, dass ich nicht Lehrerin oder Beamte geworden bin!

Auch untereinander tun wir einiges, um ja einem Klischee zu entsprechen. Jede Krankenschwester arbeitet auf der schlimmsten Station – auch ich –, mit dem wenigsten Personal – leere Stellen, wohin ich schaue – und mit den aufwendigsten Patienten – herzlich willkommen bei uns!

Doch was ist mit den hartnäckigen Klischees über die Schichtarbeit, die fast zwangsläufig mit unserem Beruf einhergehen? Oder sind das gar keine Klischees? Heißt es nicht oft, dass Schichtarbeit nicht nur ungesund ist, sondern sogar richtig krank machen kann? Leiden wir nicht alle früher oder später unter Schlafstörungen, weil der Biorhythmus völlig durch den Wind ist? Sind Magen-Darm-Probleme nicht schon programmiert, weil wir zu den ungünstigsten Zeiten essen und trinken? Trinken wir überhaupt genug und wenn, dann nicht nur Kaffee oder irgendwelche Energy-Drinks, die Flügel verleihen sollen? Und die zu erwartenden Konzentrationsschwächen – kommen diese nun von zu wenig Schlaf oder zu viel Kaffee oder gar durch die ständig wechselnden Schichten per se? Fragen über Fragen! So viele, dass sich der Gesetzgeber die Rahmenbedingungen in einem seitenlangen Absatz im Arbeitszeitgesetz der Nacht- und Schichtarbeit gewidmet hat. Dort ist relativ ausführlich beschrieben, wer wann wie lange dieser Arbeit nachgehen kann. Ich kann nur hoffen, dass dieses Gesetz nicht in mühsamer Nachtarbeit entstanden ist, denn ein übermüdeter und unkonzentrierter Gesetzgeber wäre dann für uns alle sehr ungünstig.

Auch das Bundesverfassungsgericht stellte schon 1992 fest, dass Schichtarbeit mit regelmäßigem Nachteinsatz grundsätzlich für jeden Menschen schädlich ist.

Es ist aber dennoch offensichtlich kein Zufall, dass mittlerweile auch andere Stimmen laut werden – in einer Zeit, in der der Personalmangel und der damit einhergehende und viel besprochene Pflegenotstand und die zumindest in meinem Umfeld immer häufiger ärztlich attestierten „Nachtdienstarbeitsunfähigkeiten“ zur Tagesordnung gehören. So war eine Kollegin von mir im April dieses Jahres auf einer Fachtagung zu dem schönen Thema: „(Nacht-) Schichtuntauglichkeit: Prävention und Konsequenzen“, in der sich offensichtlich unter anderem Psychologen und Schlafmediziner geäußert und von ihren Erfahrungen aus Versuchen mit zum Beispiel Studenten und Soldaten berichtet haben. Und wer hätte das gedacht: So ungesund ist das alles gar nicht! Wir stellen uns wahrscheinlich nur an und sind einem Mythos und Klischee erlegen. Sicherlich ist diese Zusammenfassung etwas überspitzt, denn während die Kollegin in einer Teamsitzung von dieser Tagung berichtete, wuchs mein innerer Zorn doch beträchtlich. Ich weiß nicht, ob es so günstig ist, solche Untersuchungen an Studenten durchzuführen. Denn wir wissen doch alle, dass der Student an sich sehr nachtaktiv ist und Schlaf als völlig überbewertet ansieht. Oder ist das wieder nur ein Klischee?

Auch ich kann zu diesem Thema einiges beitragen. Mehr als zwanzig Jahre habe ich stramm in drei Schichten gearbeitet. Und ich habe mich in all den Jahren immer schwergetan, nach einem Nachtdienstblock wieder in den Tagesrhythmus zu finden. Ich habe in den Nachtdienstzeiten an Gewicht verloren und war mit meiner schlechten Laune und häufigen Gereiztheit für mein Umfeld nicht unbedingt ein Quell der Freude.

Wie zu allen Themen in unserem Leben kann ich überall Für und Wider, Pro und Kontra, Meinungen und Gegenmeinungen finden. Es steht ja außer Zweifel, dass im Krankenhausbetrieb Schichtarbeit unabdingbar ist und dass jeder, der einen Beruf im Gesundheitswesen ergreift, damit rechnen muss, nicht unbedingt eine 5-Tage-Woche von neun bis fünf zu haben. Ich glaube, die Work-Life-Balance (wie es neudeutsch so schön heißt) macht es aus. Soll heißen, ausgeglichene Dienstpläne mit nach Möglichkeit der Berücksichtigung individueller Belastungsmöglichkeiten der einzelnen Kollegen, ausgeglichenen Schichtwechseln und Erholung bringenden Freizeiten. Klingt fast zu schön um wahr zu werden – aber wie man’s trotzdem schaffen kann, wusste ja schon Hermann Hesse (siehe oben).

In diesem Sinne,

Ihre

Heidi Günther