Pädiatrie up2date 2015; 10(04): 283-284
DOI: 10.1055/s-0041-104384
Editorial
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

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Jörg Dötsch
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Publication Date:
03 December 2015 (online)

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Jörg Dötsch

Seit vielen Wochen beherrscht das Thema des Umgangs mit den Flüchtlingsströmen die politischen Schlagzeilen der Presse. Viel wird über die Folgen des sozialen Miteinanders, dem Zusammenhalt in Europa, die finanziellen Auswirkungen und nicht zuletzt auch die Gefahren, die durch die Flüchtlingsströme gesehen werden, diskutiert. Entsprechend politisch motivierte Kreise sehen gar die Entstehung von Schläferzellen des IS durch die Flüchtlinge vorprogrammiert.

Aus ärztlicher Sicht ergeben sich natürlich ganz andere Fragestellungen, die sich naturgemäß mit Gesundheit und Erkrankung der Flüchtlinge sowie möglichen Implikationen für unser Gesundheitssystem auseinandersetzen.

Hier ist zum einen die Frage, inwiefern Erkrankungen zu uns kommen, von denen wir, wie bei der Poliomyelitis, entweder glaubten, sie in unserem Land eradiziert zu haben, oder wie bei der Tuberkulose ein Gefühl für die Resistenzlagen entwickelt hatten. In der Konsequenz ergibt sich ein Umdenken im Hinblick auf differenzierte Impfstrategien und auch im Hinblick auf den Umgang mit neuen oder abgeänderten Therapieschemata.

Zum zweiten erleben wir schwere, z. T. lebensbedrohliche, nicht adäquat behandelte chronische Erkrankungen unter den Flüchtlingen, die entweder im Heimatland nicht mehr adäquat versorgt werden konnten oder eine zusätzliche Motivation zur Flucht in ein Land mit funktionierendem Gesundheitssystem darstellten. Natürlich entstehen hieraus dann wieder neue Herausforderungen, nicht zuletzt bei der Frage, zu welchen Leistungen des deutschen Gesundheitssystems die Flüchtlinge Zugang erhalten sollen und ab welchem Zeitpunkt sie den Anspruch auf die komplette Versorgung, beispielsweise auch mit Spenderorganen, haben.

Die dritte und vielleicht größte Herausforderung stellt die Organisation der ambulanten Behandlung von Flüchtlingen dar, vor allem in Situationen, in denen viele Tausende innerhalb weniger Stunden in einer einzigen Stadt eintreffen. Hier herrscht nicht nur unter der Bevölkerung, sondern auch unter den pädiatrischen Kollegen eine ungebremste, uneigennützige Hilfsbereitschaft, die es dann erlaubt, nach und nach eine Regelversorgung zu organisieren.

Welche neuen Krankheiten wir mit dem Flüchtlingsstrom sehen werden, ob dies Einfluss auf die Gesundheit der bis zu diesem Zeitpunkt in Deutschland befindlichen Bevölkerung hat und welche Konsequenzen für das gesamte Gesundheitssystem hieraus entstehen, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch schwer abzuschätzen. In jedem Fall beschäftigt sich die Ihnen vorliegende Ausgabe von Pädiatrie up2date mit vier Themen, die zweifelsohne eine Bedeutung auch bei den Flüchtlingskindern haben kann.

Dies ist zum einen das Auftreten von Hauterkrankungen, wie der Hauttuberkulose, die wir seit vielen Jahren nur noch selten sehen und die im kinderdermatologischen Artikel von Frau Poor, Frau Striegel und Frau Mauch behandelt werden.

Zum anderen sind insbesondere bei Konsanguinität der Eltern und wichtige Differentialdiagnosen eines Neugeborenen mitochondriale Erkrankungen zu sehen, die eine wichtige Differentialdiagnose beispielsweise zur Neugeborenensepsis oder einer neonatalen Herzinsuffizienz darstellen.

Der dritte Schwerpunkt dieses Heftes könnte teilweise zu späteren Zeitpunkten oder auch direkt relevant werden. Der Artikel von Benz und Jenni beschäftigt sich mit der Entwicklung des kindlichen Sozialverhaltens. Wir können nun einschätzen, welche Folgen Flucht und Vertreibung, vielmehr aber noch die kriegerischen Umstände, die dieser Flucht vorangingen, auf das ganze Sozialverhalten der Kinder und Jugendlichen haben.

Inwiefern Probleme in diesem Bereich dann zu psychiatrischen Auffälligkeiten wie Depressionen im Kindes- und Jugendalter führen können, ist das Thema des vierten Beitrages von Frau Naab und Mitarbeitern zur Diagnostik und Therapie von depressiven Störungen im Jugendalter.

Natürlich sind die Beiträge zu allen Erkrankungen nicht direkt mit der Flüchtlingssituation verwoben, sie bringen allerdings zum Ausdruck, dass durch die ungeheuren hiermit verbundenen Veränderungen neue Herausforderungen entstehen, die unsere Einstellung zu bekannten Erkrankungsbildern nachhaltig ändern könnten.

Ihr Prof. Dr. med. Jörg Dötsch
Mitherausgeber der Pädiatrie up2date