Geburtshilfe Frauenheilkd 2020; 80(02): 219-226
DOI: 10.1055/s-0039-3402953
Wissenschaftliche Sitzung am 18. 09. 2019
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Weibliche Stuprum-Betroffene: Charakteristika von 850 angezeigten und an der Charité versorgten Fällen sowie aktuelle Versorgungssituation an deutschen Universitätsfrauenkliniken

LA Fryszer
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Publication Date:
21 February 2020 (online)

 

Einleitung: Laut Prävalenzstudien erleben 5 – 6% der Frauen in Europa eine Vergewaltigung (lat. Stuprum). Vergewaltigungen haben schwerwiegende Folgen für Betroffene. Die Erstversorgung hat erheblichen Einfluss auf den gesundheitlichen Zustand Betroffener und durch forensische Bestandteile auf ggf. folgende strafrechtliche Verfahren.

Zielsetzung: Grundvoraussetzung für die gezielte Ausrichtung der Versorgung sind Daten zu Umständen von Stuprum-Fällen. Daher erfolgte im ersten Teil der Arbeit die Erhebung von Charakteristika von mutmaßlichen Stuprum-Fällen und Aspekten der medizinischen Versorgung. Im zweiten Teil wurde vor dem Hintergrund fehlender Studien die Versorgungssituation für weibliche Stuprum-Betroffene an deutschen Universitätsfrauenkliniken ermittelt.

Material und Methoden: (1) In einer retrospektiven Studie erfolgte die Auswertung von standardisierten Befundbögen aller polizeilich anzeigenden, weiblichen mutmaßlichen Stuprum-Betroffenen, die mindestens 16 Jahre alt waren und zwischen 01. 01. 2011 und 31. 06. 2016 in einer der Charité-Rettungsstellen von der Polizei zur Versorgung vorgestellt wurden.

(2) Ein selbstentwickelter Fragebogen, orientiert an Leitlinien und Forderungen verschiedener Versorgungseinrichtungen, wurde im Herbst 2017 an alle 35 deutschen Universitätsfrauenkliniken versandt.

Ergebnisse: (1) 850 mutmaßliche Stuprum-Fälle konnten ausgewertet werden. Die Betroffenen waren im Mittel 29 Jahre alt. 6,4% gaben an, bereits zuvor eine Vergewaltigung erlebt zu haben. Der Tatverdächtige war den Betroffenen in 48,4% unbekannt, 26% entstammtem dem Freundes-/Bekanntenkreis. 15,5% waren Partner oder Expartner. Zwei Drittel der mutmaßlichen Vergewaltigungen ereigneten sich in privaten Räumen, v. a. in der Wohnung der Betroffenen. Über zwei Drittel der Frauen hatten in zeitlicher Nähe zur Tat Alkohol getrunken. In 17% der Fälle bestand ein Verdacht auf Verabreichung von sog. K.-o.-Tropfen. Extragenitale Verletzungen lagen bei 61,4% und anogenitale bei 25,4% der Betroffenen vor.

(2) Die Rücklaufquote bei der Klinikbefragung betrug 44,4% (16/36). An 12/16 Universitätsfrauenkliniken existierten Richtlinien zur Versorgung nach mutmaßlichem Stuprum, an 14/16 wurden standardisierte Untersuchungskits verwendet. Die Option „Anonyme Spurensicherung“ bestand an 11/16, eine Regelung zur infektiologischen Postexpositionsprophylaxe-Beratung an 8/16 Kliniken. Etablierte Fortbildungen zur Beweismittelsicherung gaben 13/15 Kliniken, eine Weitervermittlung an Beratungsstellen 11/16 an.

Schlussfolgerungen: (1) Mit der vorgelegten Auswertung mutmaßlicher Stuprum-Fälle wird erstmals eine so große Zahl in Deutschland analysiert. Vor dem Hintergrund der unzureichenden Studien- und Versorgungsforschungslage leistet die vorliegende Arbeit einen relevanten Beitrag zum Wissen zu Umständen von mutmaßlichen Stuprum-Fällen. Die erhobenen Daten können wegweisend für eine gezielte Ausrichtung der Erstversorgung von Frauen nach Stuprum sein.

(2) Die in der Klinikumfrage festgestellten Versorgungs- und Qualitätsunterschiede zeigen, dass an einem Teil deutscher Universitätsfrauenkliniken ein Verbesserungsbedarf in der Erstversorgung besteht und dass bisher keine Standardisierung erfolgt ist. Sowohl eine Verbesserung der Erstversorgungsstrukturen von mutmaßlichen Stuprum-Betroffenen als auch eine interdisziplinäre Leitlinie wäre wünschenswert.