Tierarztl Prax Ausg G Grosstiere Nutztiere 2019; 47(04): 268
DOI: 10.1055/s-0039-1692757
Was kann moderne Tierzucht leisten?
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Diagnose von Erbkrankheiten in der Tierzucht

G Lühken
1   Institut für Tierzucht und Haustiergenetik, Justus-Liebig-Universität Gießen
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Publikationsdatum:
21. August 2019 (online)

 

Als Erbkrankheiten bezeichnet man Krankheiten, Störungen oder Defekte, die sich auf Gesundheit, Wohlbefinden und Leistungsfähigkeit der Tiere auswirken. Monogene Erbkrankheiten werden jeweils durch eine einzelne Genvariante verursacht und nach den Mendel'schen Regeln vererbt, während genetische Dispositionen (Krankheitsempfänglichkeiten) in der Regel durch mehrere bis viele Genvarianten bedingt sind und ein komplexes Vererbungsmuster haben. Die meisten monogenen Defektallele wirken rezessiv, sodass sich heterozygote Anlageträger äußerlich nicht von anlagefreien Individuen unterscheiden lassen. Vor der Entwicklung molekulargenetischer Methoden konnten Anlageträger von Erbkrankheiten in der Regel nur über Stammbaumanalysen, Anpaarungstests und in einigen Fällen durch Bestimmung bestimmter klinischer Parameter (z.B. Enzymaktivitäten) identifiziert werden. Die Verfügbarkeit eines Gentests macht die Identifizierung von Anlageträgern für eine Erbkrankheit weitaus einfacher und sicherer. Die Entwicklung eines direkten Gentests setzt jedoch die molekulargenetische Aufklärung des zugrundeliegenden Defekts voraus.

Mit der routinemäßigen Anwendung von molekulargenetischen Basismethoden wie der PCR und der Sanger-Sequenzierung erfolgte dies in der Vergangenheit häufig über den sog. Kandidatengenansatz, bei dem in Genen, die biologisch im Zusammenhang mit der beobachteten Erbkrankheit stehen könnten, nach merkmalsverusachenden Sequenzvarianten gesucht wird. Der Kandidatengenansatz stößt aber beispielsweise in den Fällen an seine Grenzen, bei denen zu viele Gene als Kandidaten infrage kommen oder die Pathogenese der Erbkrankheit nur unzureichend geklärt ist.

Eine alternative Strategie zur Identifizierung kausaler Genvarianten ist die genomweite – also zunächst nicht auf ein oder mehrere Kandidatengene begrenzte – Suche nach DNA-Varianten, die mit dem Defekt in direktem oder indirektem Zusammenhang stehen. Hier erfolgt die Auswahl von näher zu analysierenden Kandidatengenen erst, wenn die betroffene Genomregion schon relativ eng eingegrenzt werden konnte. Eine besonders effiziente und erfolgreiche Anwendung dieser Methodik ist seit der Verfügbarkeit von DNA-Chips zur gleichzeitigen Genotypisierung von mehreren zehntausenden bis mittlerweile mehreren hunderttausenden genomweit verteilten Einzelnukleotidpolymorphismen (single nucleotide polymorphisms, SNPs) möglich.

Noch neuere technische Methoden stellen die Sequenzierverfahren der 2. und 3. Generation dar, die es durch die drastische Verringerung des finanziellen und zeitlichen Aufwands erlauben, gesamte Genome einzelner bis vieler Individuen zu sequenzieren. Hierbei kann es in günstigen Fällen ausreichen, das Genom eines einzelnen Merkmalsträgers gegen das eines anlagefreien Tieres zu vergleichen, um das Defektallel zu identifizieren. Die noch sehr jungen Sequenzierverfahren der 3. Generation (z.B. Oxford Nanopore) können dabei auch komplexere strukturelle Varianten sichtbar machen. Die Gesamtgenomsequenzierung ist besonders bei Spezies, für die bis heute kein SNP-Chip entwickelt wurde, eine wichtige Methode zur Identifizierung von Defektallelen. Dies setzt allerdings immer das Vorhandensein einer Referenzgenomsequenz für die betreffende Spezies voraus. In der Rinder- und Schweinezucht werden heutzutage im Rahmen der genomischen Selektion SNP-Chip-Genotypisierungsdaten und teilweise auch Gesamtgenomsequenzen von einer relativ großen Anzahl potenzieller Zuchttiere generiert. Diese Daten können auch genutzt werden, um (neue) Defektallele bereits vor dem Auftreten erster Merkmalsträger aufzuspüren und schon im Vorfeld deren Verbreitung in der Population zu verhindern.