Tierarztl Prax Ausg G Grosstiere Nutztiere 2019; 47(04): 265-266
DOI: 10.1055/s-0039-1692752
Moderne Tierzucht im Spannungsfeld ökonomischer und gesellschaftlicher Ansprüche
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Wie können wir gesellschaftliche Ziele der Tierzucht bestimmen?

PH Feindt
1   Lebenswissenschaftliche Fakultät, Albrecht-Daniel-Thaer-Institut für Agrar- und Gartenbauwissenschaften, Humboldt-Universität Berlin
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Publikationsverlauf

Publikationsdatum:
21. August 2019 (online)

 

Einleitung

Tierzuchtprogramme umfassen die systematische Selektion, Kreuzung und Vermehrung des genetischen Materials von Tieren nach ausgewählten Zielen mit verfügbaren Technologien. Die Ziele stellen dabei eine Priorisierung einiger Werte, Wahrnehmungen und Interessen gegenüber anderen dar. In komplexen, pluralistischen Gesellschaften ist dies eine implizit politische Fragestellung. Damit stellt sich die Frage nach geeigneten Steuerungsmechanismen.

Grenzen des Markts

Landwirtschaftliche Tierzucht orientiert sich primär an dem Zweck, marktfähige Produkte mit bestimmten Eigenschaften zu möglichst geringen Kosten zu erzeugen. Daraus leiten sich Ziele wie Produktivität, Gesundheit und Reproduktionsfähigkeit ab. Hinzu kommen Sekundärzwecke wie die Handhabbarkeit der Tiere in den landwirtschaftlichen Produktionssystemen (Stressresistenz, geringe Aggressivität, Transportfähigkeit usw.). Diese Ziele werden im Rahmen gesetzlich kodifizierter gesellschaftlicher Normen zum ethischen Umgang mit Tieren, wie z.B. dem Verbot der Qualzucht, unter vorrangiger Orientierung an Marktsignalen verfolgt.

Aus ökonomischer Sicht droht Marktversagen, wenn die Tierzüchtung öffentliche Güter berührt oder externe Effekte erzeugt. Dann fallen privater und gesellschaftlicher Nutzen auseinander. Man kann hier an die züchterische Weiterentwicklung seltener Rassen, Auswirkungen der Züchtung auf Tierwohl und Umweltziele oder Züchtungen für extensive Weidesysteme denken. Klassische Lösungsansätze bei Marktversagen sind Anreize, Ge- und Verbote, öffentliche Forschung und prozedurale Steuerung (z.B. Transparenz- und Beteiligungsgebote).

Deliberative und reflexive Politik

Aus politikwissenschaftlicher Sicht entscheidet sich in gesellschaftlichen Definitions- und Aushandlungsprozessen, was als „öffentliches Gut“ gilt. In den Diskursen der gesellschaftlichen und politischen Öffentlichkeit werden Alltagsprobleme zu Diagnosen und alternativen Handlungsoptionen verdichtet. Der politische Wettbewerb durch das Medium öffentlicher Diskurse dient dazu, gesellschaftliche Probleme zu entdecken und politisch-administrative Macht an gesellschaftliche Problemlagen rückzubinden. Dieses Modell deliberativer Demokratie setzt einen geteilten Verständigungshorizont voraus. Dieser kann problematisch werden und muss dann thematisiert werden. Ein solcher Prozess findet vor dem Hintergrund einer säkularen Veränderung der Mensch-Tier-Beziehungen derzeit im Bereich der Nutztierhaltung statt. Die Tierzucht wird damit potenziell zum Gegenstand reflexiver Politik.

Reflexivität bedeutet zunächst auf sich selbst einwirkend. Ulrich Becks Konzept der reflexiven Moderne unterscheidet dabei zwischen Reflexivität 1. Ordnung (Anpassung an externen Druck durch nicht intendierte Folgen der Modernisierung, z.B. Einsatz von Antibiotika zur Bewältigung des Krankheitsdrucks in intensiven Haltungssystemen) und Reflexivität 2. Ordnung, die eine Reflexion auf die Strukturen und Systeme beinhaltet, welche die nicht intendierten Folgen erzeugen, z.B. die wissenschaftlichen, ökonomischen und ethischen Grundlagen der intensiven Tierhaltung. Zweitens meint Reflexivität den Bezug auf die kognitive Ebene von Politik: Reflexive Steuerung berücksichtigt kognitive und normative Einstellungen ebenso wie politisch-administrative Hierarchie und ökonomische Anreize als Koordinierungsmechanismen. Beispiele sind Tierwohl-Kennzeichnungssysteme oder die Fortbildung von Tierhaltern. Drittens bezeichnet Reflexivität den Bezug auf die grundlegenden Konzepte und Rahmungen, die Diskurse und Praktiken konstituieren. Im Bereich der Tierhaltung ist der Runde Tisch Tierwohl in Hessen ein Beispiel für reflexive Steuerung, die hier ansetzt. Viertens verweist Reflexivität auf die Interdependenz zwischen dem Subjekt und dem Objekt von Repräsentationen und politischer Intervention, die durch die Spiegel-Metapher illustriert wird.

Ansätze reflexiver Steuerung

Reflexive Steuerung hat zum Ziel, unflektierte Governance-Situation, in denen Informationen lediglich strategisch eingesetzt werden, in reflexive Situationen zu überführen, indem verfügbare Informationen umfassend einbezogen und Subjekt-Objekt-Wechselwirkungen berücksichtigt werden – bei der Zielfindung in der Tierzucht also z.B. der Zusammenhang zwischen historisch gewachsenen Identitäten, etwa von Züchtern, Forschern und Tierschützern – sowie den potenziellen Objekten, Subjekten und Instrumenten züchterischer und politischer Steuerung. Ein konkreter Ansatz dafür ist das Konzept eines „neuen Gesellschaftsvertrags“, um die gesellschaftlichen Anforderungen an die Landwirtschaft und die Bedingungen, unter denen diese erfüllt werden können, zu bestimmen. Die Ziele der Tierzucht wären in diesem Kontext zu verorten. Methodisch wird dazu eine durch reflexive Wissenschaft informierte Triangulation von deliberativen Bürgerforen, prinzipiengeleiteten Verhandlungen und normativen Gerechtigkeitserwägungen vorgeschlagen.