Psychother Psychosom Med Psychol 2018; 68(08): e35
DOI: 10.1055/s-0038-1667964
SYMPOSIEN
Sozialpsychologische Perspektiven auf gegenwärtige Formen von Körpern & ihrer Modifikation
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Störungen der Moderne – Entgrenzungen und Begrenzungen

O Decker
1   Universitätsmedizin Leipzig, Abteilung für Medizinische Psychologie und Medizinische Soziologie, Leipzig, Deutschland
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Publication Date:
06 August 2018 (online)

 

„XXL-Patienten: Kostenexplosion bei Magen-Darm-Operationen“ titelte die Deutsche Angestellten Krankenkasse in einer Pressemitteilung im September 2013. Die Krankenkasse meldete unter dieser Überschrift eine Kostensteigerung in der „sogenannten Adipositas-Chirurgie“ um 64% innerhalb von fünf Jahren. Mit dieser Steigerung seit 2008 bis 2012 war allerdings noch nicht das Ende der Entwicklung erreicht. Bereits 1 ½ Jahre später meldete derselbe Kostenträger einen neuen Rekord: rund 18.300 Patienten wurden 2013 wegen Adipositas stationär in Kliniken versorgt, eine Steigerung um 153% innerhalb eines Zeitraums von acht Jahren. Gleichzeitig verändert sich auch der Diskurs über den Körper, auch über den dicken. Schon in den 1970er wurde dem Übergewicht der Kampf angesagt. Nicht ohne Wirkung in der öffentlichen Wahrnehmung: Die Einstellung gegenüber dicken Menschen veränderte sich nachhaltig. Während noch 1971 64% der Bundesbürger Dicke für die verträglichsten Zeitgenossen hielten, waren das 1979 nur noch 28%. Befreundet sein wollten 1979 mit übergewichtigen Menschen noch 82% der Befragten, 1979 nur noch 26%. Die Umwertung des positiven Vorurteils bereits in den 1970er Jahren in sein Gegenteil zeigt mehr an, als den Einschlag eines gesundheitspolitischen Diskurses. Die jüngsten Zahlen der DAK verdeutlichen mit der Not, die hinter den Eingriffen steht, dass es um eine gesellschaftliche Entwicklung geht. Tilmann Habermas konstatierte vor etwas mehr als zehn Jahren, dass man bei der Bulimie als Störung des Essverhaltens von einer modernen ethnischen Störung sprechen muss (Habermas 2001). Wenn diese Analyse zutrifft, welcher soziale Konflikt manifestiert sich im Kampf um das gewichtige Subjekt?