Nervenheilkunde 2015; 34(04): 285-292
DOI: 10.1055/s-0038-1627578
Übersichtsartikel
Schattauer GmbH

Die Nervenklinik München während der “Aktion T4”

Entlassungsdiagnosen, Verweildauer und VerlegungsverhaltenNervenklinik Munich during the “Aktion T4”
D. Jähnel
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München
,
A. Mayr
2   Institut für Medizininformatik, Biometrie und Epidemiologie, Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
,
N. Müller
1   Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians-Universität München
› Author Affiliations
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Publication History

eingereicht: 15 October 2014

angenommen am: 11 November 2014

Publication Date:
22 January 2018 (online)

Zusammenfassung

Hintergrund: Im Rahmen der “Aktion T4” kam es während des nationalsozialistischen Regimes zwischen Oktober 1939 und August 1941 zu Euthanasiemorden mit bis zu geschätzten 300 000 Opfern. Es handelte sich um Patienten aus psychiatrischen Kliniken in ganz Deutschland, bei denen unter anderem die Diagnosen manisch-depressive Erkrankung oder Schizophrenie gestellt wurden. Psychiatrische Versorgungs- und Universitätskliniken waren in unterschiedlichem Ausmaß an dieser Aktion beteiligt. Anhand von Krankenakten wurde von uns zunächst untersucht, ob sich Hinweise für die Involvierung des Personals der Münchener Universitäts- Nervenklinik in die “Aktion T4” oder für die nach 1945 getätigten Äußerungen, das Personal habe versucht, die Patienten zu schützen, ergaben. Material und Methoden: Es handelt sich um eine retrospektive Vergleichsanalyse aus der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Ludwig-Maximilians- Universität (LMU) München. Aufnahmen, Entlassungs- und Verlegungsverhalten sowie Diagnosestellung während des Zeitraums der “Aktion T4” – September 1939 bis August 1941 – wurden anhand von Aufnahmebüchern und Krankenakten mit einem Vergleichszeitraum vor der “Aktion T4” verglichen. Ergebnisse: Die Analyse der Daten zeigt, dass sich das Verlegungsverhalten insgesamt während der “Aktion T4” vom Kontrollzeitraum nicht unterschied. Die Verweildauer während der “Aktion T4” war signifikant länger. Signifikant häufiger wurde die Diagnose “Nervenkrank ohne psychische Störung” – eine damals ungefährliche Diagnose, die nicht zu einer Involvierung in “T4” führte – gestellt. Schlussfolgerung: Die Daten sind vereinbar mit der Annahme, dass sich das Personal der Münchner Nervenklinik um den Schutz der Patienten vor Euthanasie bemühte. Andere mögliche Erklärungen werden ebenfalls diskutiert.

Summary

Background: During the course of the “Aktion T4” from October 1939 to August 1941 euthanasia killings were committed by the national socialist regime with an estimated death toll of 300 000. These victims were patients of mental institutions in Germany. Psychiatric state hospitals and university hospitals were involved in the “Aktion T4” to differing degrees. The participation of the staff of the “Nervenklinik” of the Ludwig-Maximilians- Universität (LMU) Munich was analyzed with reference to the patient data from that period. Material and Methods: A retrospective analysis on patient data comparing different time frames was conducted based on the archives of the hospital for psychiatry and psychotherapy of the LMU Munich. A comparison of admission and withdrawal numbers during the time frame of the “Aktion T4” and an earlier reference period was performed. Results: A statistical analysis shows that the withdrawals from the hospital during the course of the “Aktion T4” did not change in comparison to the reference period. Additionally the average duration of the patients stay increased significantly during the “Aktion T4”. The probability of getting diagnosed mentally ill without a psychiatric disorder – a safe diagnosis not leading to an involvement in the “Aktion T4’ – was significantly increased. Conclusion: The data can be seen in accordance with the conclusion that an effort was made by the personnel of the “Nervenklinik” for the protection of the patients from euthanasia murders. However, other explanations have to be drawn into attention.

 
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