Gesundheitswesen 2017; 79(04): 299-374
DOI: 10.1055/s-0037-1602035
4. Mai 2017
Zahnmedizin 2
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Schulzahnärzte im NS-System – was wissen wir darüber?

W Kirchhoff
1   Marburg
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Publication Date:
02 May 2017 (online)

 

Die verfasste Zahnärzteschaft pflegt nach wie vor das Nichtwissen über ihre Beteiligung an den nationalsozialistischen Verbrechen. Nur Einzelne bemühten sich um die Aufklärung der NS-Vergangenheit. Dessen ungeachtet verdanken wir den wenigen Wissenschaftlern und z.T. diskriminierten Außenseitern inzwischen ein Gerüst von Fakten. 1982 begannen westdeutsche Zahnärzte mit der Aufarbeitung; etwa zeitgleich wurde an den Universitäten der DDR die Forschung aufgenommen. Standesorganisationen und zahnmedizinische Wissenschaftler Westdeutschlands sahen dafür keinen Anlass – teilweise bemühten sie sich, NS-Verbrecher unseres Berufsstandes zu rehabilitieren. Ein Eingeständnis von Schuld und Scham unterblieb.

2007 publizierte Donhauser „Das Gesundheitsamt im Nationalsozialismus – Der Wahn vom 'gesunden Volkskörper' und seine tödlichen Folgen“. 2013 folgte eine Vorkonferenz des BVÖGD. Soweit bekannt, fanden die Schulzahnärzte der Gesundheitsämter zwischen 1933 – 1945 keine Erwähnung. Wir müssen konstatieren, dass unsere Kenntnisse über die zahnärztliche Berufsgruppe im Zentrum der „Erb- und Rassenpflege“ zur Durchsetzung von Massensterilisationen und Euthanasie gering sind. Zeugen des Geschehens oder unmittelbar Beteiligte leben nicht mehr. 72 Jahre nach dem 2. Weltkrieg ist es an der Zeit, dieses Kapitel wissenschaftlich zu bearbeiten.

Welche Bezüge hatten Schulzahnärzte, um für eine Beteiligung an Massensterilisationen und Euthanasie infrage zu kommen? Voraussetzungen der „negativen Erbpflege“ waren die Gesetze zur Verhütung erbkranken Nachwuchses, zur Vereinheitlichung des Gesundheitswesens und gegen gefährliche Gewohnheitsverbrecher aus dem Jahr 1934. Die Schulgesundheitspflege war ein wichtiger Teil zur Erfassung der erbbiologischen Bestandsaufnahme der Bevölkerung zur Erstellung der reichseinheitlichen „Erbkartei“ mit 10 Mio. Karteikarten. Die etwa 500 hauptamtlichen und 1.500 nebenamtlichen Schulzahnärzte hatten Zugang zu den „Stammbäumen“ der Kinder und Jugendlichen. Sie pflegten berufsbedingte Kontakte zur Lehrerschaft. Dort fanden sie eine „erbbiologische“ Interessenidentität vor, insbesondere bei Hilfsschullehrern und Heimleitern. Ungeklärt sind Fragen der informellen Zuarbeit zu den über 200 Erbgesundheitsgerichten und anderen nationalsozialistischen Organisationen.