Gesundheitswesen 2017; 79(04): 299-374
DOI: 10.1055/s-0037-1601906
2. Mai 2017
Öffentlicher Gesundheitsdienst 1933 – 1945: Die nationalsozialistische „Erb- und Rassenpflege“ bayerischer Gesundheitsämter und deren Opfer
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Erfassen, Bewerten, Verfolgen. Das Gesundheitsamt München als ‚rassenhygienische‘ Schaltzentrale

A Christians
1   Institut für Zeitgeschichte München – Berlin, München
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Publication Date:
02 May 2017 (online)

 

Das NS-Regime verschaffte sich über kommunale Sozialbehörden, Fürsorge- und Gesundheitsämter direkten Zugang zu Wohnstätten und Lebensräumen – es griff in private Lebensentscheidungen ein, in Entscheidungen über das Familienleben, die Partnerwahl oder den Kinderwunsch. Wie gestaltete sich dieser Zugriff in München, das als „Hauptstadt der Bewegung“ in der Herrschaftstopografie des NS-Staates eine exponierte Stellung einnahm? Welche Interaktionen löste er aus und welche Erfahrungen produzierte dieser Zugriff? Der Vortrag will dazu zwei Aspekte beleuchten: erstens die Münchner Praxis der sogenannten „Erb- und Rassenpflege“, die das Regime gleich 1933 zur hauptsächlichen Aufgabe des öffentlichen Gesundheitswesens erhob. Sie umfasste einerseits Förderleistungen für Kleinkinder, Mütter und junge Familien, die nach „rassischen“ und „erbbiologischen“ Gesichtspunkten als „wertvoll“ gelten konnten. Andererseits und vor allem bedeutete die sogenannte „Erb-und Rassenpflege“ aber die „Erfassung“ und Verfolgung von Menschen mit psychischen und physischen Auffälligkeiten und Behinderungen oder mit Erkrankungen, die aus sozialrassistischen Gründen stigmatisiert waren, wie Tuberkulose oder auch Alkoholismus. Diese Verfolgung, die in München von einer engen Zusammenarbeit des Gesundheitsamts mit den psychiatrischen Kliniken geprägt war, mündete in vielen Fällen in die Durchführung einer zwangsweisen Sterilisation. Zweitens soll das öffentliche Gesundheitshandeln Münchens nach 1939 skizziert und gezeigt werden, wie der Krieg die Anforderungen an das Gesundheitswesen drastisch veränderte. Welche Handlungsspielräume nutzten die kommunalen Akteure in der Ausnahmesituation des dramatischen Mangels? Hier wird vor allem die Zusammenarbeit des Münchner Gesundheitsamts mit der Pflegeeinrichtung der Franziskanerinnen in Schönbrunn bei Dachau fokussiert. Ab 1941 nutzte die Stadt die Anstalt als Ausweichstelle für die Unterbringung von Senioren und Tuberkulose-Kranke – Hunderte der bisher dort betreuten körperlich und/oder geistig behinderten Frauen, Männer und Kinder – wurden dafür aus Schönbrunn verlegt und gerieten in den Vernichtungsapparat der NS-Krankenmorde.