Gesundheitswesen 2017; 79(04): 299-374
DOI: 10.1055/s-0037-1601899
2. Mai 2017
Workshop: „Grundlagen der angewandten Umweltmedizin“
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Der Stellenwert genetischer Diagnostik in der Klinischen Umweltmedizin

E Schnakenberg
1   Institut für Pharmakogenetik und genetische Disposition, Langenhagen
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Publication Date:
02 May 2017 (online)

 

Multiple Chemikalienempfindlichkeit, chronisches Erschöpfungssyndrom und Fibromyalgie sind häufig genannte Diagnosen in der Klinischen Umweltmedizin. Da seitens der Betroffenen ein äußerer Einfluss als Ursache der Beschwerden vermutet wird, führt der Weg oft zu Experten mit Schwerpunkt Umweltmedizin. Dennoch werden diese Diagnosen auch in allgemeinmedizinischen Einrichtungen gestellt und führen nicht selten zu einer Labordiagnostik entsprechend der fachspezifischen Sicht. Zu den exogenen Faktoren, die als Auslöser der Symptome identifiziert werden, zählen beispielsweise Schimmelpilzbelastungen im Wohnbereich, erhöhte Quecksilberkonzentrationen, Blei, Flammschutzmittel, Lösemittel und/oder Pestizide im Serum u.a.

Phase I- und Phase II Enzyme sind elementare Bestandteile des (menschlichen) Stoffwechsels. Fremdstoffe, die inhalativ, dermal und/oder oral aufgenommen werden sowie endogene Substanzen, unterliegen einer Biotransformation, bevor sie ausgeschieden werden. Der Phase I- und Phase II Stoffwechsel stellt eine wichtige Entgiftungsfunktion des Menschens dar. Cytochrom P450 Enzyme sind wichtige Vertreter des Phase I Stoffwechsels, während die Eigenschaften der Phase II Enzyme durch Methylierung, Acetylierung, Glucuronidierung und Glutathion Konjugation von Fremdstoffen gekennzeichnet sind. Sequenzvarianten in Phase I- und Phase II Genen mit einer funktionellen Bedeutung haben Einfluss auf den Metabolismus von Fremdstoffen und damit auf die individuelle Entgiftungskapazität des einzelnen Menschen. Seit Mitte der 50er Jahre ist bekannt, dass zahlreiche Medikamente genetisch bedingt unterschiedlich metabolisiert werden, was Einfluss auf die therapeutische Wirkung und auf das Entstehen unerwünschter Arzneimittelwirkungen haben kann. Als Reaktionspartner der Phase I- und Phase II Enzyme sind darüber hinaus zahlreiche Fremdstoffe aus dem alltäglichen Leben bekannt. Ein genetisch bedingt eingeschränkter, fehlender bzw. übermäßiger Phase I- und/oder Phase II Stoffwechsel kann die (toxische) Wirkung einer Substanz ändern und zu einem erhöhten Risiko für Entgiftungsstörungen beitragen, auch bei Konzentrationen von Fremdstoffen, die normalerweise keine gesundheitsschädigende Wirkung erwarten lassen. An ausgewählten Beispielen wird dargestellt, welche klinischen Konsequenzen sich aus dem Vorliegen verschiedener Sequenzvarianten in Phase I- und Phase II Genen ergeben und ggf. im Rahmen einer Stufendiagnostik in Erwägung zu ziehen sind.