Geburtshilfe Frauenheilkd 2017; 77(02): 192-200
DOI: 10.1055/s-0036-1597731
Abstracts
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Analyse der Stuprum-Fälle der Rettungsstellen der Charité sowie Ergebnisse einer Personalbefragung

H Hoffmann-Walbeck
1   Kinder- und Jugendmedizin, Klinikum Westbrandenburg, Brandenburg an der Havel
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Publication Date:
06 March 2017 (online)

 

Sexualisierte Gewalt gegen Frauen stellt weltweit ein großes gesundheitspolitisches Problem dar. Zur besseren Versorgung von Opfern sexualisierter Gewalt wurde 2010 in Berlin interdisziplinär ein „Stuprum-Kit“ entwickelt, dessen Anwendbarkeit und Akzeptanz zweieinhalb Jahre nach Einführung in den Charité-Rettungsstellen im Rahmen einer retrospektiven Fallanalyse bewertet werden sollen. Die Auswertung umfasst den Ärztlichen Befundbogen (ÄBB) des Kit, die kriminaltechnischen Untersuchungsresultate der zum Kit gehörenden Spurenträger sowie eine Bewertung des Verfahrens seitens des ärztlichen und pflegerischen Personals der Rettungsstellen mittels standardisierter Fragebögen. In die Studie gingen 270 Patientinnen mit einem Altersdurchschnitt von 30 Jahren ein (Min/Max 16 – 92 Jahre). Die meisten Täter waren den Patientinnen zuvor unbekannt (50%), 1/4 der Täter kam aus dem Bekannten-/Freundeskreis; 17% waren (Ex-)Partner. Die Tat fand in über 2/3 der Fälle in einem privaten Raum statt. Die Wartezeit in der Charité-Rettungsstelle betrug im Mittel 58 Minuten, die ärztliche Behandlung 55 Minuten. In 58% erfolgte die ärztliche Untersuchung durch eine Frau. 15,6% der Opfer wiesen mittel- bis schwerwiegende Verletzungen auf. Eine Postexpositionsprophylaxe (PEP) gegen HIV, Hepatitis B und Tetanus erfolgte bei 15,2%, 10% bzw. 8,1% der Patientinnen. Etwa 80% des Personals bewertete das „Stuprum-Kit“ als insgesamt gut bis sehr gut. Zeitliche und räumliche Untersuchungsbedingungen wurden von über 1/3 als nicht/eher nicht situationsangemessen befunden. Das Angebot von Supervision und Fortbildung zur Betreuung von Sexualgewaltopfern wurde von 2/3 der Befragten befürwortet. Die weitgehend vollständige Dokumentation der Erhebungsprotokolle und die gute Bewertung des „Stuprum-Kit“ durch das Personal sprechen für die Akzeptanz und Praxiseignung des Verfahrens. Im Rahmen einer patientenzentrierten Versorgung ohne Zeitdruck und lange Wartezeiten sollte neben regelhafter Gewährleistung gleichgeschlechtlichen ärztlichen Personals der zeitliche Mehraufwand für die Betreuung von Opfern sexualisierter Gewalt im Dienstplan des behandelnden Personals berücksichtigt werden. Ruhigere räumliche Bedingungen wären ebenso wünschenswert wie ausreichend Zeit des betreuenden Personals. Psychosoziale Hilfsangebote sollten im Rahmen der Erstversorgung vermittelt werden. Fortbildungs- und Supervisionsangebote für das Personal könnten zusätzlich zur Verbesserung der Versorgung beitragen.