Geburtshilfe Frauenheilkd 2017; 77(02): 192-200
DOI: 10.1055/s-0036-1597721
Abstracts
Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Polypharmazie bei älteren Frauen

Authors

  • J Bolbrinker

    1   Institut für Klinische Pharmakologie und Toxikologie, Charité, Berlin
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Publication Date:
06 March 2017 (online)

 

Neben Veränderungen pharmakokinetischer und -dynamischer Prozesse wird eine adäquate Arzneimitteltherapie bei älteren Menschen oftmals durch die steigende Wirkstoffanzahl verkompliziert. Unter Polypharmazie wird dabei die gleichzeitige Verordnung von fünf oder mehr unterschiedlichen Arzneimitteln pro Tag verstanden. In Deutschland ist bei 30% der über 65-Jährigen von einer Polypharmazie auszugehen; die Prävalenz steigt mit dem Alter und ist bei Frauen höher als bei Männern (Knopf & Grams, 2013). Eine wesentliche Ursache liegt in der höheren Rate an chronischen Erkrankungen mit zunehmendem Alter, da die unkritische Anwendung aller Handlungsempfehlungen der Einzelerkrankungen zwangsläufig zu einer enormen Gesamtzahl verordneter Wirkstoffe führt (Haefeli, 2014; Boyd MC et al., 2005). Stationäre Aufenthalte (Betteridge TM et al., 2012) sowie wechselnde Zuständigkeiten im Rahmen der ambulanten fachärztlichen Versorgung tragen zum Problem der Multimedikation ebenso bei wie Verordnungskaskaden bei Fehlinterpretationen einer Nebenwirkung als Symptom einer neuen Erkrankung (Rochon PA & Gurwitz JH, 1997). Zusätzlich zu den verordneten Wirkstoffen wenden etwa 40% der deutschen Erwachsenen frei erhältliche Präparate sowie rezeptpflichtige Arzneimittel in der Selbstmedikation an (Knopf & Grams, 2013). Mit zunehmender Wirkstoffanzahl steigt das Risiko für unerwünschte Arzneimittelwirkungen und Wechselwirkungen (Thürmann, 2014; Haefeli, 2014). Zudem erhöht sich die Wahrscheinlichkeit, dass die Gesamtmedikation potentiell inadäquate Medikamente (PIM) mit einem bei Älteren ungünstigen Nutzen-Risiko-Verhältnis enthält (Holt et al., 2010). Problematisch ist die Beobachtung, dass Patienten mit Polypharmazie häufiger indizierte Arzneimittel nicht erhalten, also eine Unterversorgung vorliegt (Haefeli, 2014). Und nicht zuletzt führt eine Polypharmazie zu einer deutlich reduzierten Adhärenz (Pasina et al., 2014). Jede Neuverordnung bei Älteren sollte PIM vermeiden durch Nutzung z:B. der PRISCUS-Liste (Holt et al., 2010), wobei sich die Auswahl an sog. Positiv-Listen wie der deutschen FORTA-Liste orientieren kann (Kuhn-Thiel et al., 2014). Die Nutzung elektronischer Verordnungshilfen bei der Beurteilung einer Gesamtmedikation ist sinnvoll. Grundvoraussetzung bleibt jedoch die Kenntnis aller Beteiligten über die vollständige, aktuelle Medikation. Die Einführung eines bundeseinheitlichen Medikationsplans soll dies unterstützen (BMG, E-Health-Gesetz).