Gesundheitswesen 2016; 78 - A151
DOI: 10.1055/s-0036-1586661

Anorexia Nervosa während bzw. nach einer Schwangerschaft – Selten diagnostiziert dennoch ernst zu nehmen!

S Herrmann 1, R Glöckner 1
  • 1TU Chemnitz, Fakultät für Human- und Sozialwissenschaften, Institut für Soziologie, Professur für Soziologie mit dem Schwerpunkt Gesundheitsforschung, Chemnitz

Hintergrund: Der mütterliche Ernährungszustand vor und während der Schwangerschaft sowie in der Stillzeit ist ein entscheidender Faktor für die Gesundheit von Mutter und Kind. ErnährungsexpertInnen empfehlen in der Schwangerschaft eine zusätzliche Nahrungsaufnahme von 200 bis 300 Kalorien. Werden diese Empfehlungen nicht ausreichend eingehalten, können Schwangerschaftskomplikationen in Form von Früh- oder Todgeburten auftreten. In der Gestation vorherrschendes Untergewicht aufgrund von Mangelernährung begünstigt Osteoporose, wodurch sich während der Geburt das Risiko für Wirbelkörper- und Beckenbruchfrakturen sowie die Wahrscheinlichkeit der Entbindung durch einen Kaiserschnitt erhöht. Zudem können Neugeborene essgestörter Frauen nicht nur unter einem geringen Geburtsgewicht leiden, sondern ebenso unter Schädelfehlbildungen. Weiterhin resultiert eine pränatale Mangelernährung in einem langsameren Wachstum im ersten Lebensjahr sowie in kognitiven Beeinträchtigungen und psychischen Auffälligkeiten. Für Anorexia Nervosa wird für Frauen eine Lebenszeitprävalenz zwischen 0,5% und 1% berichtet. Tatsächliche Prävalenzangaben für an Anorexia Nervosa erkrankten Schwangeren können bisher nicht geliefert werden. Demnach und um eine entsprechende Forschung zur Verbreitung und Identifikation von Risikoverhaltensweisen vorantreiben zu können, soll eine erste Einschätzung von ExpertInnen eingeholt werden.

Methode: In einer quantitativen Expertenbefragung mit N = 232 Hebammen und GynäkologInnen wurde u.a. eruiert, inwieweit sie in ihrem Berufsalltag mit an Anorexia Nervosa erkrankten Schwangeren in Kontakt treten, einschätzen, ob sich (werdende) Mütter von gesellschaftlichen Schlankheitsidealen unter Druck gesetzt fühlen und für welche Maßnahmen sie sich im Rahmen der allgemeinen Schwangerschaftsvorsorge aussprechen.

Ergebnisse: Die Analyse ergab, dass bei über der Hälfte (53,7%) der N = 205 ExpertInnen, Frauen, die während der Schwangerschaft an Anorexia Nervosa erkrankt sind, als Patientinnen bzw. Klientinnen bekannt sind. Es wird für Dtl. eine allgemeine Prävalenz von Ø 9,27%± 8 geschätzt. Die ExpertInnen konnten während ihrer Arbeitstätigkeit feststellen, dass sich Frauen mittelmäßig bis sehr stark unter Druck gesetzt fühlen, während der Schwangerschaft dünn zu sein (43,3%) bzw. nach der Schwangerschaft schnell wieder dünn zu werden (89,2%). Im Rahmen der Schwangerschaftsvorsorge empfehlen die ExpertInnen v.a. Maßnahmen zur Stärkung des Körperbewusstseins (66,2%) sowie eine spezielle Ernährungsberatung (60,2%).

Diskussion: Die Befragung zeigt deutlich, dass die epidemiologische Dunkelziffer von an Anorexia Nervosa erkrankten Schwangeren und Müttern über klinische Studien empirisch aufgedeckt und entsprechende Versorgungsmaßnahmen initiiert werden sollten. Referenzen beim Verfasser.