Gesundheitswesen 2016; 78 - A119
DOI: 10.1055/s-0036-1586629

„Der Motorroller ist wie unsere Füße“ – Soziokulturelle, sozioökonomische und Umwelteinflüsse auf physische Aktivität in der Alltagsmobilität der urbanen Mittelschicht Indonesiens – eine qualitative Mix-Method-Analyse

J Stratil 1, R Wacker 2
  • 1Universität Tübingen, Medizinische Fakultät, Tübingen
  • 2Pädagogische Hochschule Schwäbisch Gmünd, Schwäbisch Gmünd

Hintergrund: In den rasant wachsenden Städten Indonesiens stieg die Gesundheitsbelastung durch unzureichende physische Aktivität und Adipositas in den letzten Jahren deutlich1. Die Forschung zu Umwelten, welche physische Aktivität fördern oder hemmen, ist dagegen größtenteils auf Länder hohen Pro-Kopf-Einkommens ausgerichtet und zeigt inkonsistente Ergebnisse zu Effektivität und Determinanten2,3. Um diese Lücken zu schließen, untersuchte diese Studie soziokulturelle, ökonomische und Umwelteinflüsse auf das Alltagsmobilitätsverhalten der urbanen Mittelschicht Yogyakartas (Indonesien).

Methodik: Die Datenerhebung erfolgte mittels eines Mix-Method-Ansatzes. Zu Beginn wurden n = 7 leitfragengestützte Interviews (40 min) mit studierenden (n = 2) und arbeitenden (n = 5) Angehörigen der Mittelschicht durchgeführt. Darauf folgte eine Fokusgruppendiskussion (FGD) (70 min; n = 6 Teilnehmende) bei einer lokalen Umwelt-NRO, welche die Infrastruktur auf Fahrradfreundlichkeit untersucht hatte. Die Interviewtranskripte wurden mittels qualitativer Inhaltsanalyse nach Mayring4 ausgewertet. Basierend auf den Ergebnissen erfolgte eine semiquantiative Fragebogenbefragung von n = 40 Studierenden (Rücklauf: 38/40) und n = 25 mittelständischen Haushalten (Rücklauf: 19/25). In einer abschließenden FGD (40 min; n = 4 Teilnehmende) wurden die Ergebnisse der vorangegangenen Untersuchungsschritte nochmals mit VertreterInnen der Umweltorganisation diskutiert.

Ergebnisse: Die TeilnehmerInnen assoziierten Gehen/Fahrradfahren in der Alltagsmobilität mit negativen Attributen wie Armut oder Alternativlosigkeit und nahmen dies als ungewöhnlich wahr. Die Mobilität mittels Motorroller wurde als normal angesehen und positiv attribuiert (Erfolg, Wohlstand, Dynamik). Ein Schönheitsideal heller Haut wurde als Barriere genannt. Der Motorroller wurde als schnell, effektiv und günstig (u.a. durch Treibstoffsubstitution) wahrgenommen. Hierzu trug u.a. der urbane informelle Sektor (Parkplatzservice, Reparaturservice) bei. Aspekte von Umweltschutz und Gesundheitsförderung wurden als nicht ausreichend bedeutsam erachtet, um die Vorzüge des Motorrollers auszugleichen. Daraus ergab sich für die Teilnehmenden kein Grund, die Nutzung des Motorrollers zugunsten physisch aktiver Mobilität einzuschränken. Die urbane Umwelt wurde als „sehr gut“ für Motorroller bewertet. Deren Bewertung für Gehen/Fahrradfahren fiel inkonsistent aus, wobei insbesondere Teilnehmende, welche Angaben wenig zu gehen bzw. Fahrrad zu fahren, die gebaute Umwelt nicht als Barriere für physisch aktive Mobilität wahrnahmen.

Diskussion: Diese semi-qualitative Studie unterstreicht die Bedeutung von soziokulturellen Determinanten bezüglich physisch aktiver Alltagsmobilität als mögliche Erklärung der inkonsistenten Ergebnisse zu „physical activity Environments“2. Interventionen zur Förderung von physischer Aktivität in der Alltagsmobilität sollten nicht nur gebaute, sondern auch soziale Lebenswelten beachten. Eine nachfolgende, repräsentative quantitative Studie sollte angestrebt werden. Referenzen beim Verfasser.