Gesundheitswesen 2016; 78 - A103
DOI: 10.1055/s-0036-1586613

Kindergesundheitsziele Berlin: Warum lässt sich die soziale Schere nicht schließen?

S Bettge 1, S Oberwöhrmann 1, G Meinlschmidt 1
  • 1Senatsverwaltung für Gesundheit und Soziales Berlin, Berlin

Hintergrund und Zielsetzung: Die Berliner Kindergesundheitsziele wurden im Jahr 2007 u.a. auf der Grundlage der Daten der Einschulungsuntersuchungen in Berlin beschlossen. Neben Zielen zur Verbesserung bestimmter Gesundheitsindikatoren wurden Unterziele zum Abbau von Benachteiligung durch soziale Lage oder Migrationshintergrund formuliert. Am Beispiel des Gesundheitsziels zur Visuomotorik wird der Grad der Zielerreichung untersucht.

Methoden: Ausgewertet werden die Daten der Einschulungsuntersuchungen in Berlin der Jahre 2005 bis 2014 als sequenzielle Querschnitte. Mit deskriptiv-statistischen Verfahren werden der Zeitverlauf der Zielgröße und die Zusammensetzung der betrachteten Gruppen untersucht. Zusätzlich wird mittels logistischer Regressionen analysiert, ob und wenn ja, wie das komplexe Zusammenhangsgefüge sich im zeitlichen Verlauf verändert hat.

Ergebnisse: Das für den Indikator Visuomotorik formulierte Gesundheitsziel wurde nicht erreicht. Obwohl auch das Zusammenhangsgefüge zwischen Einflussgrößen und Zielindikator im Wesentlichen gleich geblieben ist, hat im Zielindikator Visuomotorik in den Subgruppen, für die Unterziele formuliert wurden, eine gegenläufige Veränderung stattgefunden: in der kleiner gewordenen Gruppe der Kinder der unteren sozialen Schicht ist eine Verschlechterung der Testergebnisse zu beobachten, in der gewachsenen Gruppe der Kinder mit Migrationshintergrund eine Verbesserung. Die hierzu durchgeführten Regressionsanalysen zeigen für das Jahr 2012 im Vergleich zum Ausgangsjahr 2005 einen abgeschwächten Zusammenhang des Zielindikators Visuomotorik für mehrere Subgruppen von Kindern mit Migrationshintergrund im Vergleich zu Kindern deutscher Herkunft (signifikante Odds Ratios von 1,23 bis 1,89 gesunken auf 0,83 bis 1,51), aber eine stärkere Abhängigkeit des Zielindikators von der sozialen Lage (Odds Ratio für untere soziale Schicht im Vergleich zur oberen sozialen Schicht gestiegen von 2,80 auf 3,59).

Diskussion und Schlussfolgerungen: Trotz der nach wie vor bestehenden Zusammenhänge von sozialer Lage und Migrationshintergrund zeigt sich im Gesundheitszielindikator eine gegenläufige Entwicklung: Während Kinder mit Migrationshintergrund 2012 zum Zeitpunkt der Einschulungsuntersuchung weniger in ihrer Visuomotorik benachteiligt sind als im Jahr 2005, trifft für die kleiner gewordene Gruppe der sozial benachteiligten Kinder das Gegenteil zu. Möglicherweise sind bisherige Maßnahmen der Gesundheits- und Entwicklungsförderung besser geeignet, fehlende Deutschkenntnisse als fehlenden familiären Bildungshintergrund zu kompensieren. Maßnahmen zur Verbesserung der Gesundheitschancen sozial benachteiligter Kinder müssen spezifisch auf diese Zielgruppe zugeschnitten sein und an ihrer Lebensrealität und ihrem Lebensumfeld ansetzen.