Gesundheitswesen 2016; 78 - A57
DOI: 10.1055/s-0036-1586567

Modellprojekt Gesundheitsuntersuchung für Menschen mit geistiger Behinderung

R Leibner 1, W de Cruppé 1, S Schwalen 2, M Geraedts 1
  • 1Universität Witten/Herdecke, Witten
  • 2Ärztekammer Nordrhein, Düsseldorf

Hintergrund: Internationale Studien belegen die gesundheitliche Unterversorgung von Menschen mit geistiger Behinderung. Zahlreiche, multifaktoriell verursachte Barrieren erschweren den Zugang zur Gesundheitsversorgung. Die Situation in Deutschland wurde bisher nur unzureichend erforscht. Studienziel: [1] Inanspruchnahme, Akzeptanz und Barrieren präventiver und kurativer Gesundheitsversorgung erfassen. [2] Behandlungsdefizite in der Versorgung erkennen.

Methoden: Die epidemiologische Erhebung findet in 2 Werkstätten für Menschen mit geistiger Behinderung statt. [1] Mithilfe eines selbst entwickelten Erhebungsinstruments werden Menschen mit geistiger Behinderung und/oder deren gesetzliche Betreuer/innen befragt. [2] Im Rahmen einer ärztlichen Untersuchung (angelehnt an den Check-up 35) werden bekannte Diagnosen und bisher nicht bekannte Diagnosen erhoben.

Ergebnisse: [1] Nach 2 von 8 Rekrutierungsmonaten liegen 40 Fragebögen zur Inanspruchnahme von Gesundheitsuntersuchungen vor. 80% (32) der Befragten haben während der letzten drei Monate ärztliche Hilfe in Anspruch genommen. Wenn sie sich krank fühlen, sagen 70% (28) der Menschen mit geistiger Behinderung ‚meistens oder immer‘ Anderen Bescheid, 20% (8) hingegen ‚selten oder nie‘. 60% (24) der Befragten gehen ‚selten oder nie‘ aus eigenem Antrieb zum Arzt. 40% (16) der befragten Personen geben an, ‚meistens oder manchmal‘ Angst vor Arztbesuchen zu haben. Schwierigkeiten bei der ärztlichen Behandlung gibt es überwiegend beim Hausarzt, Frauenarzt, Augenarzt und Zahnarzt. [2] Die ersten 12 Erhebungsbögen der Gesundheitsuntersuchung in der Werkstatt zeigen: Keine der 7 Personen mit vorgelegtem Impfausweis verfügt über einen dokumentierten, vollständigen Impfschutz für Tetanus, Diphtherie, Keuchhusten und Masern. Den fehlenden Impfschutz bzw. unklaren Impfstatus ausgenommen, erhielten 83% (10) eine Neudiagnose oder abklärungswürdigen Befund, darunter Hypertonie (3), Nagelmykose (3), Verdacht auf Hypothyreose (1), auffällige Naevi (1), kariöse Läsionen (4), eingeschränkter Visus (2), Zeruminalpfropf (1). Fazit: Durch die strukturierte Gesundheitsuntersuchung kann der gesundheitliche Versorgungsbedarf von Menschen mit geistiger Behinderung erfasst werden.

Praxisrelevanz: Der bisher erfasste Versorgungsbedarf könnte eine Versorgungsverbesserung durch die Einführung eines jährlichen Gesundheits-Check-ups für Menschen mit geistiger Behinderung ab dem Alter von 18 Jahren nahe legen. Diese Untersuchung sollte die wichtigsten spezifischen Gesundheitsrisiken von Menschen mit geistiger Behinderung erfassen, wozu auch die Überprüfung des Impfstatus gehören sollte.