Gesundheitswesen 2016; 78 - A4
DOI: 10.1055/s-0036-1586514

Gesundheitsbezogene Bedürfnisse von Migrantinnen und Migranten im ländlichen Raum

B Reime 1, P König 1, CC Balcik 1, B Delican 1, L Dörflinger 1, M Erdrich 1, J Joachim 1, C Köhler 1, S Lengle 1, M Rosner 1, M Sahbaz 1, P Schwenke 1, A Stürmlinger 1, M Durmus 2
  • 1Hochschule Furtwangen, Furtwangen
  • 2Türkisch-islamische Gemeinde DITIP, Haslach im Kinzigtal

Hintergrund: Daten über die gesundheitsbezogene Versorgung und die gesundheitlichen Bedarfe von in Deutschland lebenden Migrantengruppen stammen größtenteils aus einem städtischen Umfeld (1 – 4).

Ziel der Fragestellung: Im Rahmen eines bottom-up designten Empowerment-Projekts sollen die gesundheitsbezogenen Bedürfnisse und etwaige Versorgungslücken von türkischen Migrantinnen und Migranten im ländlichen Raum ermittelt werden.

Methode: Ab März 2014 erfolgte die Kontaktaufnahme mit zwei türkischen Gemeinden im ländlichen Raum Südbadens. Bei Gemeindetreffen wurden zweisprachige standardisierte Fragebögen ausgeteilt, die auf die Zufriedenheit mit der gesundheitlichen Versorgung allgemein und bezogen auf den kulturellen Hintergrund sowie Informationswünsche abzielten. Durch Fokusgruppensitzungen, an denen n = 18 Türkinnen und Türken mit und ohne beruflichen Bezug zum Gesundheitswesen teilnahmen und durch problemzentrierte Interviews mit n = 10 deutschen und eingewanderten Ärztinnen und Ärzten der Region wurden qualitative Angaben erhoben und transkribiert. Es wurde eine qualitative Inhaltsanalyse nach Mayring (2015) durchgeführt.

Ergebnisse: Die standardisierten Befragungen (n = 99) ergaben, dass 47,6% der Befragten nicht deutsch lesen, 61,0% nicht schreiben, 42,9% nicht sprechen und 19,0% nicht verstehen konnten. Fünfzehn Prozent der Befragten fanden die gesundheitliche Versorgung „schlecht“ oder „sehr schlecht“ und 71,4% der Befragten gaben an, dass der Arzt ihre Kultur bei der Behandlung nicht berücksichtige. Befragte, die Sprachbarrieren angaben, beurteilten die Qualität der Versorgung eher schlecht. Informationsbedarf gab primär es zu Themen wie Pflegeversicherung, Antrag auf Pflegestufen und ambulante Pflegedienste. Diesbezüglicher Informationsbedarf wurde von 95,2% der Befragten angegeben. Knapp zehn Prozent der befragten Türkinnen und Türken wünschten sich einen türkischen (Haus-)Arzt. In einer der Gemeinden wurde auch der Bereich Depression als prioritär angegeben. Die qualitativen Interviews mit Ärztinnen und Ärzten ergaben folgende Kategorien: sprachliche Barrieren, kulturelle Aspekte, gesundheitliche Lage, Informationsdefizite, Zugang zum Gesundheitssystem und ältere Migranten. Die Ärzte sahen grundsätzlich weniger Probleme für Migranten im Gesundheitswesen als die Migranten selbst.

Diskussion: In diesem Empowerment-Projekt äußerten Türkinnen und Türken im ländlichen Raum hohen Informationsbedarf, vor allem bezogen auf die Pflege der ersten Generation.

Schlussfolgerung und Praxisrelevanz: Eventuell besteht im ländlichen Raum ein Bedarf an breiterer Vernetzung von Akteuren im Bereich Gesundheit/Pflege einerseits und Migrantenorganisationen andererseits. Pflegestützpunkte können zweisprachige Informationsangebote zu den Themenkomplexen Pflege und Depression in Form von Flyern, Vorträgen und Selbsthilfegruppen in den Gemeinden partizipativ konzipieren und evaluieren. Referenzen beim Verfasser.