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DOI: 10.1055/s-0035-1569322
Balint und Bowlby: Eine Zusammenstellung der Beiden.[*]
Interne Balint-Gruppen und „Sichere Basis“ – PraxenBalint and Bowlby: Putting the Two Together. In House Balint – Groups and “Secure Base” PracticesPublication History
Publication Date:
12 April 2016 (online)

Einführung
Die Bindungstheorie ist grundlegend für unser Verständnis menschlicher Beziehungen gemeinsam mit einer umfangreichen Forschungsliteratur, die aus John Bowlby’s und Mary Ainsworth’s Originalwerk hervorgegangen ist [1] [2]. Bis vor kurzem gab es in der Literatur der Allgemeinmedizin fast keine Bezugnahme auf die Bindungstheorie. Aber es gibt jetzt eine wachsende, jedoch „noch leise“ Stimme, diese Ideen zu untersuchen, vor allem hinsichtlich der klinischen Kommunikation und Lehre.
„Die Bindungstheorie verweist daher auf das Bedürfnis der Patienten, zu spüren, dass sie in Beziehungen zu praktischen Ärzten stehen, die wirklich für sie sorgen. Dies kann erklären, warum die Wahrnehmung der authentischen Betreuung für Patienten von größerer Bedeutung ist als die geschliffene Darbietung allgemeiner Kommunikationskompetenzen, und warum Patienten oft Aspekte der spezifischen Art des Verhaltens praktischer Ärzte schätzen. [3]“ In diesem Beitrag gehen unsere Bestrebungen in 4 Richtungen. Erstens, die Auffassung weiterzuentwickeln, Praxen der Primärversorgung als „sichere Basis“ aufzufassen – Orte, denen sowohl Patienten als auch Fachleute in charakteristischer Art und Weise verbunden sind. [4] Wir vermuten, dass die Charakteristika der Funktion einer „sicheren Basis“ zu Rahmenbedingungen für die gesunde Funktionsweise von Praxen entwickelt werden können. Davon ausgehend wollen wir die Rolle einer Balint-Gruppe untersuchen, die sich regelmäßig in einer solchen Organisation trifft. So wie die „Mentalisierung“ als die grundlegende psychologische Fähigkeit im Geist einer sicher gebundenen Person angesehen werden kann, könnte eine praxisinterne Balint-Gruppe als das Äquivalent in einer gesund funktionierenden allgemeinen Praxis aufgefasst werden. Um Mentalisierung zu definieren, schrieb Fonagy: „basiert auf und führt zu der Fähigkeit zur Reflexion über die Zustände des Geistes seiner selbst und anderer.“ [5] Holmes beschreibt „das Vermögen, sich selbst von außen und andere von innen zu sehen“ [6]: keine schlechte Beschreibung für die Ziele einer Balint-Gruppe.
Als Nächstes berichten wir über 2 Praxis-interne Balint-Gruppen und betrachten einige der Möglichkeiten, wie eine solche Gruppe sich von den traditionelleren Balint-Gruppen ohne Praxisbindung unterscheidet. Zuletzt unterbreiten wir Gedanken darüber, wie die Forschung die Verbindungen zwischen Praxis – internen Balint-Gruppen und „Sicherer Basis“ – Praktiken untersuchen könnte. Diese Fragen entstand aus unserer Präsentation auf dem 2011 Philadelphia Kongress. [7]
Bindungstheorie und primäre Gesundheitsversorgung
„Sichere Basis“ ist die Bezeichnung in der Bindungstheorie, die der primären Betreuungsperson des Kindes, üblicherweise der Mutter, gegeben wird. Wenn wir bedenken, dass die sogenannte „Sichere Basis“–Mutter ihrem Kind möglicherweise eine „unsichere Bindung“ bietet und wenn wir die Bezeichnung auf Allgemeinpraxen anwenden, setzen wir nicht voraus, dass Praxen denjenigen, die in ihnen arbeiten, oder den Patienten, auch eine sichere Bindung bieten. Weit gefehlt! Vielmehr stellt dies einen möglichen Maßstab für das organisatorische Funktionieren dar.
In seinem Buch „The Search for the Secure Base“ schreibt Jeremy Holmes „Kinder, deren Eltern auf sie einfühlsam und entsprechend eingestimmt reagieren, sind mit höherer Wahrscheinlichkeit sicher gebunden; diejenigen mit schroffen zurückweisenden Eltern sind eher vermeidend, jene mit inkonsequenten Eltern eher ambivalent und solche mit Eltern, die selbst ein größeres Trauma erlebt haben, eher desorganisiert. Bindungsstile scheinen stabile Entwicklungspfade abzubilden, in denen bestimmte Muster von Sicherheit oder Unsicherheit „care-giving“ – Reaktionen evozieren, die diese Muster perpetuieren… Dies heißt nicht, dass eine Entwicklung von, sagen wir mal, unsicheren Pfaden zu sicheren nicht auftreten kann – z. B. wenn deprimierte Mütter Psychotherapie erhalten oder wenn sie gute Beziehungen mit neuen Partnern bilden…“ [6]
Bei der Lektüre dieser Passage ist es für uns schwer das starke Echo ähnlicher Beziehungsmuster zwischen Patienten und ihren Betreuungspersonen in der Primärversorgung zu überhören. Während manche Patienten ihre Lebenskrisen direkt in die Praxis bringen und sich geradezu auf Monate niederlassen, scheinen andere einfach genügend Rückversicherung aus einem gelegentlichen oder mehrmaligen Kontakt zu schöpfen.
„Ich weiß nicht warum, Herr Doktor, aber ich fühle mich immer besser, nachdem ich Sie gesehen habe.“ Patienten mit sicherer Bindung sind möglicherweise besser in der Lage, ihre Ärzte in einer bestimmten und direkten Weise in Anspruch zu nehmen, weniger verkompliziert durch die Ängstlichkeit hilfsbedürftiger, ambivalenter oder vermeidender Beziehungsmuster. Für diejenigen mit unsicherer Bindung kann die professionelle Beziehung diese Unsicherheit widerspiegeln, und es sind diese Beziehungen, die wahrscheinlich ein reziprokes Verhalten unsererseits und seitens unserer Mitarbeiter auslösen. Viele uns regelmäßig besuchende Patienten werden ambivalente oder desorganisierte Bindungsmuster haben und werden voraussichtlich in unseren Balint-Gruppen vorgestellt.
Die Praxis als „sichere Basis“?
Michael Balint verwendete den Begriff „gegenseitige Beteiligungsgesellschaft“ (‚mutual investment company‛), um die Art und Weise zu beschreiben, wie „Kapital“ in der Arzt-Patienten-Beziehung als Resultat der regelmäßigen Begegnungen zwischen Arzt und Patient angesammelt wird. [8] Das „Kapital“ auf diesem gemeinsamen Konto kann, falls nötig, in der wachsenden Arzt-Patienten-Beziehung in Anspruch genommen werden.
Die Ärzte und die Mitarbeiter in Praxen der Allgemeinmedizin (GP) verfügen oft über Kenntnis der wesentlichen Vorkommnisse und Krankheitsmuster, die die Lebenswege ihrer Patienten geprägt haben – dieses Wissen verbleibt schließlich in der Praxis selbst, die dann manche der Eigenschaften einer „sicheren Basis“ für ihre Patienten zu übernehmen beginnt.
Fragen rund um die Funktion einer Praxis als „sichere Basis:“
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Wie sicher gebunden fühlt sich das Fachpersonal in der Praxis? Gibt es das Gefühl einer Institution, die „zuhört“ und einen Ort für einen Mitarbeiter als Person schafft?
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Ist die Abgrenzung nach außen durch die Praxis-Führung gesteuert? Brauchen Praxen, nachdem das betriebliche Umfeld anspruchsvoller und feindseliger wird, eine wirkungsvollere „halb-durchlässige Außenhaut“, zum Schutz des inneren Arbeitsmilieus, das die Verordnungen von Behörden und Forderungen der Außenwelt bearbeitet und entgiftet?
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Zeigt die Praxis narrative Kompetenz in der Fähigkeit, ihre eigene Geschichte zu erzählen und an ihr teilzuhaben? Die Praxishistorie – dazu gehören fundamentale Richtlinien, bedeutende Ereignisse, Wechsel der Räumlichkeiten, Persönlichkeiten, die in der Praxis gearbeitet haben, vielleicht sogar ein Fotoalbum?
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Ist die Fähigkeit zu spielen in der Praxis offenkundig? Die Rolle des Spiels ist für die Bindungstheorie von zentraler Bedeutung. Wenn sich das Fachpersonal sicher (geborgen) fühlt, wird dies erkundende und kreative klinische Arbeit möglich machen, ebenso wie wahre Verspieltheit! Geselliges Zusammenspiel und die Fähigkeit zu wechselseitiger Freude sind zentrale Punkte für die Tragfähigkeit der sicheren Basis.
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Wie kommt die Praxis mit Veränderung und Verlust zurecht? Mitunter müssen Praxen ihre Arbeit angesichts erheblicher Traumata fortsetzen – plötzliche Todesfälle, Suizide, ausgedehnte Abwesenheiten, schwere Krankheiten, unerwarteter Weggang der wichtigsten Betriebsangehörigen – alle müssen bewältigt werden, ebenso wie das Bemühen, weiterhin eine Dienstleistung für die Patienten zur Verfügung zu stellen. Oft bedingen solche Vorfälle eine schnelle Nachbesetzung und können eine traumatisierte Praxis zur Folge haben. Wie wirkt sich dieser Verlust auf alle aus und auf das Funktionieren der Praxis als Ganzes?
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Für alle höchst wichtig und mit dem oben Angeführten verbunden – wie ist die Kapazität zur Mentalisierung? Wie bringt eine Praxis ihr Erfordernis zur Reflexion zum Ausdruck? Sind Gefühle zulässig? Kann ein Konflikt konstruktiv bewältigt werden? Gibt es eine Team-Konferenz, eine multidisziplinäre Besprechung, vielleicht eine Balint-Gruppe? Oder versammeln sich die Leute fast nie? Und wenn sie es tun, vermeiden sie das Gespräch über ihre Gefühle bezüglich der Arbeit.
* Übersetzung durch Dr. med. Hans-Peter Edlhaimb Pfarrgasse 1, 2500 Baden, Österreich 0043 225248450 edlhaimb@medway.at
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Literatur
- 1 Bowlby J. Attachment: vol. 1 of the „Attachment and loss“ trilogy. London: Pimlico; 1997: 448 p. p
- 2 Bowlby J. Attachment and loss. New York: Basic Books; 1969
- 3 Salmon P, Young B. Dependence and caring in clinical communication: the relevance of attachment and other theories 2009; 74: 331-338 PubMed PMID: 19157761. English
- 4 Elder A, Holmes J. Mental health in primary care, a new approach. Oxford; New York: Oxford University Press; 2002. viii 323 p. p
- 5 Fonagy P, Steele M, Steele H, Moran GS, Higgitt AC. The capacity for understanding mental states: The reflective self in parent and child and its significance for security of attachment. 1991; 12: 201-218 PubMed PMID: 17222647632771363551related:3zIPw8UiA-8J
- 6 Holmes J. The search for the secure base: attachment theory and psychotherapy. Routledge; 2001
- 7 Nease D, Elder A, Jablonski H. Making a House a home investigatin the potential for Balint groups to make medical homes truly patient centered. Sep 012011. p 1-11
- 8 Balint M. The doctor, his patient, and the illness. New York: International Universities Press; 1957. xii, 355 p