Gesundheitswesen 2015; 77 - A75
DOI: 10.1055/s-0035-1563031

Eine qualitative Studie über die Auswirkungen der hochaktiven antiretrovalen Therapie auf nicht-staatliche Unterstützungsgemeinschaften für HIV-positive Menschen in Deutschland

A Baumann 1
  • 1Institut für Medizinische Soziologie, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg

Hintergrund: Die veränderte Behandelbarkeit einer HIV-Infektion durch hochaktive antiretrovirale Therapie (HAART) änderte die Bedeutung von Professionalität für behandelnde Ärzte fundamental. Der ethische Kodex änderte sich von einer Behandlungs-Ethik, die Mitgefühl in den Mittelpunkt stellte, zu einer Ethik, welche die Wichtigkeit fachlicher Kompetenz betonte. Angemessene Behandlung bedeutete nicht mehr, Patienten zu einem würdevollen Tod zu verhelfen, sondern vielmehr, Medikamente korrekt zu verschreiben. Die Folgen dieser ‚Medikalisierung‘ wurden jedoch in Bezug auf jene Bereiche der HIV/Aids-Arbeit, welche sich mit Prävention und sozialer Unterstützung befassen, weniger berücksichtigt. Diese Studie versucht nachzuvollziehen, wie das veränderte Ausmaß einer HIV-Infektion sich auf den nicht-staatlichen Teil dieses Sektors auswirkt. Methoden: Semi-strukturierte Interviews wurden mit 16 Informanten geführt, die entweder formal in unterschiedlichen Nichtregierungsorganisationen angestellt waren, oder ehrenamtlich für eine Organisation arbeiteten. Ihre Arbeitserfahrung mit HIV/Aids variierte zwischen zwei und knapp 30 Jahren. Ergebnisse: Informanten berichteten von einer generellen Wahrnehmung von HIV/Aids als ‚normale‘ Krankheit, wonach die Existenz spezieller Unterstützungsangebote nicht gerechtfertigt sei. Gleichzeitig wurde von diskriminierenden Praktiken und angsterfüllten Reaktionen berichtet. Beide Reaktionen auf HIV/Aids wurden als den Arbeitsalltag erschwerend beschrieben. Während Informanten, die im Bereich der Beratung von HIV-Positiven tätig waren, vor der Einführung von HAART von diesen mehrheitlich mit Fragen zu Tod und Sterben aufgesucht wurden, waren Fragen in Bezug auf medizinische Themen, Diskriminierung, Finanzen und Rente nun sehr viel häufiger. Ihre Klienten hatten ein ganzes Leben anstatt ihrer eigenen Beerdigung zu organisieren. Diskussion: Durch HAART konnte das autonome Selbst HIV-Positiver wiederhergestellt und gesichert werden. Ihre Autonomität und Fähigkeit, Entscheidungen zu treffen, wurde wieder ins Dasein gerufen. Jene, welche im Bereich der HIV/Aids-Beratung, Prävention oder Öffentlichkeitsarbeit tätig sind, agieren als Vermittler eines biopolitischen Regimes, welches verantwortungsbewusste, durch autonome Subjekte ausgeführte Handlungen als höchsten Wert definiert.

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