Der Klinikarzt 2015; 44(5): 231
DOI: 10.1055/s-0035-1555646
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Hypertonie auf neuen Wegen

Thomas Mengden
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Publication Date:
02 June 2015 (online)

Sucht man in Harrisons „Innere Medizin“ den Begriff „Arterielle Hypertonie“ so findet sich dort der Begriff „Hypertensive Gefäßerkrankung“ (Hypertensive vascular disease).

Diese Nomenklatur macht deutlich, dass die Erkrankung arterielle Hypertonie weit mehr als die Diagnostik und Therapie eines Risikofaktors bedeutet.

Vielmehr wird deutlich, dass die arterielle Hypertonie eine Gefäßerkrankung ist, die durch strukturelle und funktionelle Veränderungen im Bereich der großen und kleinen Gefäße charakterisiert ist. Der Schweizer Kardiologe und Hämodynamiker Otto Martin Hess († 07.04.2011)hat dies früh erkannt und folgenden Satz geprägt: „Vergessen wir das, was wir in den Lehrbüchern der Inneren Medizin über die Arterielle Hypertonie gelernt haben. Die arterielle Hypertonie ist eine vaskuläre Erkrankung. Erhöhte systolische Blutdruckwerte sind Ausdruck einer Versteifung der Aorta mit Verlust der Windkesselfunktion.“

Aus dieser vaskulären Betrachtungsweise hinaus wären erhöhte Blutdruckwerte nicht mehr nur als Risikofaktor, sondern als Marker für die hypertensive Gefäßerkrankung zu sehen. Diese neuartige Betrachtungsweise spiegelt sich auch auf wissenschaftlichen Kongressen und in der wissenschaftlichen Literatur der letzten Jahre wider. Das aktuelle Schwerpunktheft greift diese Entwicklungen inhaltlich auf und erweitert die Perspektive um die kardialen Endorganschäden.

Der Beitrag von S. Wassertheurer stellt in kurzer und prägnanter Form die Grundlagen der sogenannten „Pulsologie“, also der Physiologie und Pathophysiologie der Pulswelle bei arterieller Hypertonie dar. Glücklicherweise müssen wir durch den technologischen Fortschritt heute nicht mehr 20 verschiedene Pulsqualitäten ertasten. Vielmehr erlauben uns nicht-invasive Methoden zur Pulswellenanalyse einen Einblick in die hämodynamischen Veränderungen bei arterieller Hypertonie. Perspektivisch zielen diese Ansätze natürlich auch auf eine Therapieoptimierung und damit Prognoseverbesserung. Die Euphorie in diesem jungen Fach der „Pulsologie“ wird zurzeit noch deutlich gedämpft durch unzureichende Standardisierung bezüglich Messgenauigkeit, Validierung und Interpretation von Normwerten respektive pathologischen Werten.

Mit der Pulswelle weiter geht es in dem Beitrag von A. Patzak. Wie wir bereits in der Physiologie gelernt haben, erhöht sich die Steifigkeit der Gefäße durch eine zunehmende transmurale Wandspannung. Je höher der intraarterielle Druck, desto höher werden die Gefäßsteifigkeit und auch die Pulswellenlaufzeit. Kommt es zu akuten oder chronischen Blutdruckerhöhungen, so steigt die Pulswellengeschwindigkeit proportional an. Dies macht man sich bei der kontinuierlichen nicht-invasiven Blutdruckmessung mittels Pulswellenlaufzeit zunutze. Wie in dem Beitrag formuliert wird, liefert diese Methode nach entsprechender vorausgegangener Kalibrierung mit der auskultatorischen Standardmethode klinisch akzeptable systolische Blutdruckwerte. Inwieweit diese neue Messmethode Einzug in die konventionelle 24-Stunden-Langzeitblutdruckmessung halten wird, ist zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht absehbar. Kann die Methode auch zur Bestimmung des diastolischen Blutdrucks herangezogen werden oder handelt es sich hierbei lediglich um Schätzungen? Können wir die gleichen Normwerte wie für die konventionelle, intermittierende 24-Stunden-Blutdruckmessung benutzen? Welche prognostische Bedeutung haben die so ermittelten Blutdruckwerte?

Ein noch aktuelleres Thema als die „Pulsologie“ ist das ventrikulo-vaskuläre Coupling, das in dem Beitrag von U. Nixdorff methodisch dargestellt wird. Die klinische Bedeutung ist besonders bei Patienten mit diastolischer Herzinsuffizienz zu sehen. Es handelt sich oft um ältere Frauen mit isolierter systolischer Hypertonie. Die erhöhte Steifigkeit der Aorta hat gravierende hämodynamische Auswirkungen auf den linken Ventrikel. Die Pulswellenanalyse der Karotis mithilfe spezieller vaskulärer Ultraschallsysteme ist ein interessanter Ansatz, um die Interaktion zwischen großen Gefäßen und Ventrikel zu analysieren. Eine genaue Analyse des ventrikulo-vaskulären Couplings könnte es uns in Zukunft ermöglichen, die kardialen Auswirkungen der hypertensiven Vaskulopathie besser zu behandeln.

Genau um diese kardialen Auswirkungen geht es in den Beiträgen von W. Derer sowie meinem eigenen Beitrag. W. Derer greift in seinem Artikel die seit Jahren heftige und noch nicht gelöste Debatte um die sogenannte J-Kurve auf. Diese Debatte hat zwischenzeitlich sogar Hochdruck-Patienten erreicht, die besorgt in unsere Sprechstunden kommen mit der Frage, ob ihr diastolischer Blutdruck von 70 mmHg eine Gefährdung für einen Myokardinfarkt bedeute. Damit verbunden ist oft auch die Frage, ob Antihypertensiva reduziert oder sogar abgesetzt werden sollten. Der Beitrag von W. Derer macht klar, dass es für solche weitreichenden Konsequenzen zurzeit keine klare wissenschaftliche Evidenz gibt. Klares Fazit: Wir brauchen dringend randomisierte und kontrollierte Studien, die die Fragen nach dem optimalen Zielblutdruck adressieren.

Neben der Ischämiegefährdung ist der Patient mit Hoch-druckherz auch von Vorhofflimmern, Schlaganfall und plötz-lichem Herztod bedroht. Insbesondere bei Vorhofflimmern wird der optimalen Blutdruckeinstellung oft noch zu wenig Bedeutung beigemessen. Neben den therapeutischen Dimensionen werden auch diagnostische Möglichkeiten für eine engere Verzahnung von Hypertensiologie und Rhythmologie aufgezeigt.