Gesundheitswesen 2016; 78(05): 285-289
DOI: 10.1055/s-0034-1396890
Originalarbeit
© Georg Thieme Verlag KG Stuttgart · New York

Die gesundheitliche Versorgung in der DDR aus Patientensicht: Eine Untersuchung von Eingaben an die SED

Health Care in the German Democratic Republic (GDR) from the Patients‘ View: A Survey of Petitions Sent to the Socialist Unity Party of Germany (SED)
F. Bruns
1   Institut für Geschichte und Ethik der Medizin, Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin
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Publication Date:
19 February 2015 (online)

Zusammenfassung

Ziel: Anhand schriftlicher Eingaben, die Patienten in der DDR in den 1980er Jahren an das Zentralkomitee der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands (SED) richteten, wird die medizinhistorische Forschung zum DDR-Gesundheitswesen um die Patientenperspektive erweitert.

Methodik: Im Bundesarchiv wurden in den Beständen des ehemaligen Parteiarchivs der SED schriftliche Eingaben untersucht, die Patienten oder deren Angehörige aus allen Bezirken der DDR zwischen 1980 und 1989 an das Zentralkomitee (ZK) der SED gerichtet haben. Im Rahmen einer Zufallsstichprobe wurden 302 Eingaben ausgewählt und 216 davon statistisch ausgewertet und inhaltlichen Kategorien zugeordnet.

Ergebnisse: Die untersuchten Eingaben bieten Einblick in die zeitgenössische Sichtweise der DDR-Bürger auf die medizinische Versorgung in ihrem Land. In den Texten spiegelt sich der Umgang von Kranken und ihren Angehörigen mit Mängeln und Defiziten des ostdeutschen Gesundheitssystems in den 1980er Jahren wider. Zu den am häufigsten angesprochenen Problembereichen gehören die Gewährung von Kuren, Renten oder Entschädigungen sowie lange Wartezeiten oder bauliche Mängel in Gesundheitseinrichtungen. Der Verweis auf Verdienste für Staat und Partei ist dabei ein wiederkehrendes Merkmal in den Texten. Die Erwähnung der eigenen Mitgliedschaft in der SED vermochte die Erfolgschancen der Beschwerden signifikant zu erhöhen.

Schlussfolgerungen: Der bisherige Kenntnisstand über das Gesundheitswesen der DDR erfährt durch die systematische Analyse der Patientenperspektive eine wichtige Ergänzung, die das historische Gesamtbild weiter zu differenzieren vermag. Die Sichtweise von Kranken und ihren Angehörigen sollte in der medizinhistorischen Forschung zur DDR stärkere Berücksichtigung finden.

Abstract

Objective: The aim of this paper is to explore the patients’ view of the health system in the German Democratic Republic (GDR) in the 1980 s. It investigates how patients experienced everyday medical care in the GDR beyond the ideals of official health policy.

Methods: A systematic analysis of patients’ written petitions to the Central Committee of the Socialist Party in the GDR was undertaken.

Results: Patients articulated their experiences and expectations quite critically, using characteristic patterns of argumentation and, at times, successfully exerting pressure on the regime to answer their demands. Conflicts concerning disability pensions, factual or putative malpractice and complaints about run-down health facilities belong to the issues most frequently addressed. Persons who mentioned their membership in the Socialist Party had better chances to get their problems solved than those who did not disclose any affiliation to the Socialist Party.

Conclusion: The petitions surveyed in this study provide insight into the lives of patients in the late GDR. Patients made particular demands of the socialist state and its health system. It is important to integrate the patients’ perspective into historical research on medical care in the GDR.

 
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