Gesundheitswesen 2014; 76 - A213
DOI: 10.1055/s-0034-1387063

Zusammenschluss von Kliniken zu einem regionalen Traumanetzwerk: Ergebnisse einer qualitativen Studie zu Auswirkungen auf Kooperationsprozesse und social capital

J Weigl 1, A Ernstberger 2, M Koller 3, M Nerlich 2, J Loss 1
  • 1Medizinische Soziologie, Universität Regensburg
  • 2Klinik für Unfallchirurgie, Universitätsklinikum Regensburg
  • 3Zentrum für klinische Studien, Universitätsklinikum Regensburg

Hintergrund: Der Zusammenschluss von Kliniken zu regionalen Verbünden gewinnt zunehmend an Bedeutung. So initiierte die Deutsche Gesellschaft für Unfallchirurgie 2006 die Bildung von regionalen sog. TraumaNetzwerken (TN): Kliniken in einem Gebiet sollten sich zur Optimierung der Schwerverletztenversorgung organisieren und kooperieren. Ein TraumaNetzwerk beinhaltet i.d.R. mindestens ein überregionales Traumazentrum, mehrere regionale Traumazentren und Kliniken der Regelversorgung (sog. lokale Traumazentren). Kennzeichen eines TN sind u.a. Formulierung von standardisierten Behandlungsabläufen und Verlegungskriterien, gemeinsame Ausbildungsprogramme und Qualitätszirkel sowie die Einrichtung von Telekommunikation. Das TraumaNetzwerk Ostbayern (TNO) ist das erste in Deutschland zertifizierte und – mit derzeit 26 beteiligten Kliniken – eines der größten von 46 deutschen TNs. Bislang wurde nicht untersucht, inwieweit die Kooperation die Qualität sozialer Beziehungen innerhalb dieser Netzwerke verändert und Patientenversorgung oder Motivation der Teilnehmer beeinflusst. Diese Aspekte lassen sich durch das Konzept des „social capital“ (Sozialkapital) erfassen; dies beschreibt die Ressourcen, die durch die Teilhabe an einem Netz sozialer Beziehungen entstehen können. Social capital wurde klassischerweise in Regionen und Nachbarschaften analysiert, bislang aber nicht auf Klinikverbünde angewendet.

Methodik: Es wurden semi-standardisierte face-to-face-Interviews mit den verantwortlichen Ärzten (Chef- und Oberärzte) von 16 unfallchirurgischen Kliniken des TNO geführt. Die Rekrutierung erfolgte in Form eines theoretischen Samplings bis zum Eintritt einer Sättigung, wobei alle drei Versorgungsstufen (überregional, regional, lokal) gleichmäßig vertreten sind. Erfragt wurden u.a. Struktur der Zusammenarbeit, Entscheidungswege, Identifikation mit dem Netzwerk, Reziprozität und Vertrauen sowie gemeinsames Agieren. Die Erfassung des social capital orientierte sich u.a. an Indikatoren von Foxton & Jones 2011, The World Bank Group 2003 und Pfaff et al 2005. Die Interviews wurden aufgezeichnet, transkribiert, anonymisiert und mittels systematischer Inhaltsanalyse ausgewertet.

Erste Ergebnisse: Der Austausch innerhalb des Netzwerkes findet v.a. in vierteljährlichen TNO-Treffen (Qualitätszirkeln) aller Klinikvertreter statt, darüber hinaus vereinzelt in bilateralen Kontakten zwischen Kliniken. Die Entscheidungswege werden als transparent bewertet, die Mitglieder fühlen sich mehrheitlich gehört und eingebunden, was insbesondere auf den integrierenden Leitungsstil des TN-Sprechers und das offene Klima in der Gruppe zurückgeführt wird. Die meisten Interviewpartner bestätigen die Entwicklung eines gewissen Gemeinschaftsgefühls („Wir Unfallchirurgen in Ostbayern“), die Ausbildung eines Vertrauensverhältnisses untereinander sowie das Verfolgen gemeinsamer Ziele. Eine Kerngruppe hat sich zudem zu gemeinsamem berufspolitischem Engagement zusammengeschlossen. Nur wenige Interviewpartner geben an, medizinisch nicht zu profitieren oder sich in Versorgungsaspekten gelegentlich bevormundet zu fühlen. Nahezu alle interviewten Ärzte empfinden die Bildung eines Netzwerks subjektiv als eine Verbesserung in der Patientenversorgung, v.a. die lokalen Kliniken, was hauptsächlich auf die Standardisierung in Abläufen und Ausbildung zurückgeführt wird. Die Verlegungspraxis habe sich kaum geändert. Durch erleichterte Kommunikation und Zusammengehörigkeitsgefühl steige zudem größtenteils die ärztliche Zufriedenheit.

Schlussfolgerung: Der Zusammenschluss unfallchirurgischer Kliniken zu einem regionalen TN hat zur Entstehung von social capital geführt, indem Vertrauen untereinander aufgebaut wurde und eine gemeinsame Kultur und Identität entstanden ist. Durch wachsende Kooperation verbessert sich die ärztliche Arbeitszufriedenheit; möglicherweise kann auch ein Benefit für den Patienten erzielt werden. Allerdings bleibt trotz der Kooperation eine Konkurrenz zwischen örtlich nahen Häusern bestehen. Die Ausbildung von social capital hängt offensichtlich stark von der Leitung des TN ab, so dass vergleichende Untersuchungen in anderen TNs sinnvoll erscheinen.