Gesundheitswesen 2014; 76 - A169
DOI: 10.1055/s-0034-1387019

Kategorisierung von Adipositas bei Einschulungskindern nach verschiedenen Referenzsystemen: Sind Rangreihen-Unterschiede real oder statistisches Artefakt?

R Schulz 1, T Schneider 1, U Nennstiel-Ratzel 1, J Kuhn 1
  • 1Bayerisches Landesamt für Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (LGL), Oberschleißheim

Einleitung/Hintergrund: Adipositas ist ein wichtiges Public Health-Problem, auch wenn bei Kindern mittlerweile stagnierende bzw. sinkende Quoten beobachtet werden. Der Anteil der adipösen Kinder hängt dabei u.a. davon ab, nach welchem Referenzsystem der BMI der Kinder kategorisiert wurde. In Deutschland wird im Allgemeinen das von der AGA empfohlene Referenzsystem nach Kromeyer-Hauschild et al. (KH) angewandt, bei internationalen Vergleichen das von der IOTF empfohlene Referenzsystem nach Cole et al. Seit 2010 steht zusätzlich ein vom Robert Koch-Institut aus den Daten der KiGGS-Studie ermitteltes Referenzsystem zur Verfügung. Betrachtet man die Rangfolge von Adipositasquoten zwischen den Geschlechtern, zwischen Gruppen nach Migrationshintergrund oder nach Landkreisen und kreisfreien Städten etwa nach Kromeyer-Hauschild, stellt sich die Frage, ob diese Rangfolgen real sind oder vom Referenzsystem abhängen, in diesem Sinne also möglicherweise ein statistisches Artefakt darstellen. Diese Frage wird anhand eines Vergleichs von Rangreihen des Anteils adipöser Kinder mit den drei Referenzsystemen untersucht.

Daten/Methodik: Die erstuntersuchten Kinder in der Schuleingangsuntersuchung zum Schuljahr 2009/2010 in Bayern (n = 114.081) werden nach den Cut-Off-Points der Referenzsysteme von KiGGS, Kromeyer-Hauschild und Cole kategorisiert. Die Rangreihen der jeweiligen Anteile der adipösen Kinder unterschieden nach Geschlecht, Migrationshintergrund (Proxy-Variable: Muttersprache der Eltern) und regional nach Landkreisen und kreisfreien Städten werden in vergleichenden Analysen betrachtet.

Ergebnisse: Bei Cole sind mehr Mädchen als Jungen adipös, bei KiGGS und Kromeyer-Hauschild mehr Jungen als Mädchen; es ergibt sich daher für die Jungen eine andere Rangreihe (KiGGS > KH > Cole) als für die Mädchen (KiGGS > Cole > KH). Beim Migrationshintergrund ergibt sich bei allen Referenzsystemen die gleiche Rangreihe der Adipositasquote für die Vergleichsgruppen: Kinder mit beidseitigem Migrationshintergrund weisen höhere Adipositasquoten auf als Kinder mit einseitigem Migrationshintergrund und diese höhere als Kinder ohne Migrationshintergrund. Bei den Landkreisen und kreisfreien Städten kommt es zu unterschiedlichen Rangfolgen je nach Referenzsystem. Dennoch korrelieren die Rangfolgen der drei Referenzsysteme sehr stark (> 0,95) und hoch signifikant (p < 0,01) miteinander. Auch das typische geografische Nordost-Süd-Muster in Bayern bleibt erhalten.

Diskussion/Schlussfolgerung: Die Ergebnisse zeigen, dass es bei Geschlecht und bei Regionalvergleichen Rangreihenunterschiede je nach Referenzsystem gibt, d.h. dass die Rangfolgen hier möglicherweise statistische Artefakte darstellen. Die Rangreihenunterschiede im Regionalvergleich sind im Allgemeinen eher geringfügig. Im kleinräumigen Vergleich sind jedoch im Einzelfall auch größere Einflüsse des Referenzsystems in Rechnung zu stellen, dies wäre beispielsweise in der kommunalen Gesundheitsberichterstattung zu berücksichtigen. Die Befunde zum Migrationshintergrund sind referenzsysteminvariant. Da es keinen „Goldstandard“ gibt, der die wahren Adipositasquoten wiedergibt, wird angenommen, dass referenzsysteminvariante Rangfolgen real sind. Teilweise wird dies durch Überlegungen zur externen Validität der Rangfolgen gestützt, zum Beispiel was die Adipositasquoten nach Migrationshintergrund angeht oder im großräumigen Regionalvergleich („Nordost-Süd-Gefälle“).