Gesundheitswesen 2014; 76 - A161
DOI: 10.1055/s-0034-1387011

Delegation ärztlicher Leistungen an nichtärztliche Fachkräfte: Der Versorgungsansatz agneszwei in Brandenburg – eine qualitative Akzeptanzanalyse

M Schmiedhofer 1
  • 1Charité Universitätsmedizin, Berlin

Mit dem demografischen Wandel steigt der Anteil älterer Menschen mit chronischen Erkrankungen stetig an. Gleichzeitig sinkt die Zahl der niedergelassenen Ärztinnen und Ärzte in strukturschwachen Gebieten, sodass sich dort bereits heute Versorgungsdefizite einstellen. Um diesen zu begegnen, wurden seit Mitte der 2000er Jahre in Deutschland Modellprojekte durchgeführt, bei denen ärztliche Tätigkeiten im Rahmen von Hausbesuchen an qualifizierte nichtärztliche Fachkräfte delegiert werden. Quantitative Evaluationen der Modellprojekte haben durchweg sehr hohe Zufriedenheitswerte bei den beteiligten Ärzten, Fachkräften und Patienten aufgezeigt. Mit mehreren Gesetzesänderungen wurden die rechtlichen Voraussetzungen für eine flächenweite Implementierung der zunächst nur modellhaft erprobten Delegationsprojekte geschaffen. In Brandenburg wurde 2012 durch die Kassenärztliche Vereinigung Brandenburg, die AOK Nordost und die Barmer BEK das agneszwei-Versorgungsmodell mit Schwerpunkt auf individuellem Fallmanagement für chronisch kranke Patienten eingeführt und finanziell abgesichert. Vor dem Hintergrund der bekannten hohen Zustimmungswerte zur Delegation ärztlicher Leistungen wurde zur Messung der Akzeptanz ein qualitatives Forschungsdesign gewählt, um Erkenntnisse über die Hintergründe der erfragten Bewertungen zu erhalten. Im Oktober 2012 wurden zehn leitfadengestützte qualitative Experteninterviews mit sechs Ärzten und vier agneszwei-Fachkräften in Brandenburg geführt. Im Mittelpunkt der Befragung standen die Übereinstimmungen, Differenzen und Konfliktpotentiale der ärztlichen und nichtärztlichen Berufsgruppen bei der alltäglichen Kooperation im Rahmen des agneszwei-Versorgungsansatzes.

Alle Befragten zeigten sich im Ergebnis mit dem agneszwei-Modell und der Zusammenarbeit der Berufsgruppen sehr zufrieden. Dafür benennen sie allerdings zwei unabdingbare Voraussetzungen: Erstens die strikte Anerkennung der ärztlichen Steuerungsfunktion für Diagnose und Therapie durch die Arzthelferinnen und Krankenschwestern und zweitens eine ausgeprägte Berufserfahrung der nichtärztlichen Fachkräfte. Da sowohl die professionelle Abgrenzung als auch die belastbare berufliche Erfahrung gegeben sind, berichten die Ärzte eine deutliche zeitliche und strukturelle Entlastung ihres Berufsalltags. Neben der reinen Einsparung ärztlicher Arbeitszeit erleichtert die regelmäßige aufsuchende Arbeit durch die Fachkräfte die Wahrnehmung der Versorgungsverantwortung gegenüber vulnerablen Patientinnen und Patienten. Für diese stellt sich aus Sicht der Befragten der nichtärztliche Hintergrund der Fachkräfte sogar als Vorteil für die Steigerung der Adhärenz dar. Das im Gegensatz zu ärztlichen Konsultationen umfangreichere Zeitbudget und eine größere soziale Alltagsnähe ermöglichen eine Kommunikation auf Augenhöhe, die sich bezüglich der Thematisierung schambesetzter, zeitaufwendiger und belastender Fragestellungen sogar als vorteilhaft gegenüber ärztlichen Besuchen darstellt. Die Fachkräfte übernehmen dabei eine moderierende Rolle zwischen den funktional agierenden Ärzten und den Patienten in deren sozialem Lebensumfeld, mit der die Compliance gestärkt wird. Dabei beruht die professionelle Zufriedenheit der Fachkräfte auf der Wirksamkeit ihrer Moderatorenrolle, die mit originär ärztlichen Aufgaben weder konkurriert noch kollidiert. Das auf die Kooperationsqualität untersuchte agneszwei-Versorgungsmodell entspricht den Forderungen des Sachverständigengutachtens 2009 „Koordination und Integration – Gesundheitsversorgung in einer Gesellschaft des längeren Lebens“. Darin wird die Optimierung der Primärversorgung durch Patientenaktivierung und regelmäßiges Monitoring und die Erschließung neuer Tätigkeitsfelder und Arbeitsteilungen im Praxisteam vorgeschlagen, um chronisch kranke alte Menschen bei der Steuerung komplexer Krankheitsgeschehen zu unterstützen. In der Befragung der agneszwei-Akteure wurde aufgezeigt, unter welchen sozial-strukturellen Bedingungen Fallmanagement- und Delegationstätigkeiten so gut funktionieren, dass die Patienten durch die umfassende Betreuung sogar einen Mehrwert generieren können.