Gesundheitswesen 2014; 76 - A90
DOI: 10.1055/s-0034-1386940

Pflegesituation älterer türkeistämmiger Migranten – Zur Diskrepanz von Pflegeorientierungen und institutioneller Versorgungslage

V Krobisch 1, L Schenk 2
  • 1Charité – Universitätsmedizin Berlin, Berlin
  • 2Charité-Universitätsmedizin Berlin, Institut für Medizinische Soziologie, Berlin

Mit der sogenannten ersten Gastarbeitergeneration erreicht in Deutschland derzeit eine ganze Kohorte sukzessive das Rentenalter. Aufgrund ihrer Migrationserfahrung, häufig prekärer Arbeits- und Lebensbedingungen und kulturellen Prägung stellen die einstigen Arbeitsmigranten besondere Anforderungen an eine Pflege. Gleichzeitig bietet die aktuelle (statistische) Datenlage eine unzureichende Planungsgrundlage [1, 2]. Ziel des Vortrags ist es, anhand von Ergebnissen einer im Auftrag des Zentrums für Qualität in der Pflege durchgeführten quantitativen (Pilot-)Studie zur Pflegesituation älterer türkeistämmiger Migrantinnen und Migranten in Berlin zur Klärung der Frage beizutragen, inwieweit diese Bevölkerungsgruppe in das Pflegesystem in Deutschland integriert ist und sich die institutionelle Versorgungslage mit Blick auf ihre Pflegeorientierungen und Informationssituation erklären lässt. Im Jahr 2013 wurden 194 türkeistämmige Migrantinnen und Migranten anhand eines standardisierten Fragebogens befragt. Die (nicht-repräsentative) Netzwerkstichprobe umfasst Personen im Alter zwischen 59 und 88 Jahren, die in der Türkei geboren und mehrheitlich während der Gastarbeiteranwerbung nach Deutschland zuwandert sind. Aufbauend auf den Ergebnissen einer qualitativen Studie zu Pflegeorientierungen türkeistämmiger Migranten erfasst der Fragebogen u.a. Einstellungen zur pflegerischen Versorgung im Alter, die Fähigkeit zur Bewältigung von Alltagsaktivitäten (ADL/iADL-Skala) als Indikator für Pflegebedürftigkeit gemäß des SGB XI, das Vorliegen bzw. Nicht-Vorliegen einer Pflegestufe zur Einschätzung der Teilhabe am institutionellen Pflegesystem sowie mittels Selbstangaben der Befragungsteilnehmer und Wissensfragen den Informationsstand zum Thema Pflege. Die Auswertung der Daten erfolgte anhand deskriptiver Verteilungs- und Zusammenhangsanalysen. Mit 89,5% rangieren professionelle Pflegekräfte weit vorn bei der Frage, wer die Pflege älterer Menschen übernehmen sollte. Insbesondere ambulanter Pflege stehen die Befragten aufgeschlossen gegenüber (74,0%). Von den in Privathaushalten lebenden Befragten, für die Hinweise auf Pflegebedürftigkeit vorliegen, verfügt jedoch knapp ein Viertel über keine Pflegestufe. Ein geringer Wissens- und Kenntnisstand bezüglich des Pflegesystems und örtlicher Beratungs- und Pflegeangebote sowie eine Tendenz, Gedanken an das Alter zu vermeiden, scheinen das institutionelle Versorgungsdefizit zu begründen. Fast die Hälfte aller Befragten fühlt sich (sehr) schlecht zum Thema Pflege informiert, weitere 36% nur mittelmäßig. Zwei Drittel der älteren Türkeistämmigen befasste sich bislang kaum mit der Vorsorge für das hohe Alter und eine Pflegebedürftigkeit. Der Sozialstatus beeinflusst den Informationsstand und das Ausmaß der Auseinandersetzung mit den Vorsorgemöglichkeiten; Befragte mit einem geringeren Sozialstatus befassen sich weniger mit der Altersvorsorge (61,0%/44,4%) und fühlen sich häufiger schlecht informiert als diejenigen mit einem höheren Sozialstatus (51,8%/31,3%). Die Daten deuten auf eine Diskrepanz zwischen den Pflegeorientierungen türkeistämmiger Migranten und ihrer Integration in das Pflegesystem hin, die u.a. auf Wissens- und Informationsdefizite sowie eine eher geringe Planung der Altersphase zurückzuführen ist. Bei Türkeistämmigen mit einem geringeren Sozialstatus scheinen diese Gründe vermehrt zu bestehen, so dass bei ihnen von einem größeren Versorgungsdefizit auszugehen ist. Die Untersuchungsergebnisse implizieren ein Verbesserungspotenzial hinsichtlich der Einbindung älterer türkeistämmiger Migranten in das Pflegesystem in Deutschland mittels proaktiver Beratungs- und Informationspolitik. Obgleich die Aussagekraft der Ergebnisse aufgrund des geringen Stichprobenumfangs, der fehlenden Repräsentativität und Vergleichsgruppe sowie der regionalen Beschränkung auf den Stadtstaat Berlin eingeschränkt ist, werden sie durch den bestehenden Forschungsstand gestützt [z.B. 3, 4, 5, 6, 7]. Die Ergebnisse sollten durch bevölkerungsrepräsentative Daten weiter abgesichert und fundiert werden.